Unearthly. Dunkle Flammen (German Edition)
und ich würde am liebsten im Wagen bleiben. Ich will noch nicht, dass der Abend vorbei ist.
«Ach, i wo», meint er. Er macht den Motor aus, dreht sich zu mir um und sieht mich nachdenklich an. «Ich würde mich gar nicht wundern, wenn du zum Mond fliegen könntest.»
Ich halte die Luft an.
«Willst du morgen mit mir Heidelbeeren pflücken?», fragt er.
«Heidelbeeren?»
«In der Stadt zahlen die fünfzig Dollar pro Pfund. Ich kenne da eine Stelle, wo an die hundert Heidelbeersträucher wachsen. Im Sommer bin ich da ein paarmal gewesen. Es ist noch früh im Jahr, aber ein Teil der Beeren dürfte schon reif sein, weil es in letzter Zeit so heiß war. Damit kann man eine Menge verdienen.»
«Gut», sage ich zu meiner eigenen Überraschung. «Ich komme mit.»
Er springt aus dem Wagen und geht um ihn herum, um mir die Tür aufzuhalten. Dann streckt er die Hand aus und hilft mir, aus dem Truck zu klettern.
«Danke», sage ich leise.
«Nacht, Karotte.»
«Nacht, Tuck.»
Er lehnt sich an den Truck und wartet, bis ich im Haus bin. Von drinnen mache ich das Licht auf der Veranda an und beobachte ihn vom Wohnzimmerfenster aus. Ich schaue ihm so lange nach, bis das Heck des rostigen Pick-ups unter den Bäumen verschwindet. Dann laufe ich nach oben in mein Zimmer und sehe noch die Rücklichter, die über unsere Auffahrt bis auf die Hauptstraße gleiten.
Ich betrachte mich im Spiegel meiner Kleiderschranktür. Das Mädchen, das mir da entgegenschaut, wurde von einem reißenden Fluss mitgezerrt, und ihr orangefarbenes Haar ist an der Luft getrocknet und hängt ihr lockig und offen um das Gesicht herum. Sie bekommt allmählich Farbe, obwohl Engelblutwesen nicht leicht braun werden. Und morgen wird sie an irgendeinem Berghang mit einem waschechten Rodeo-Cowboy Heidelbeeren pflücken.
«Was machst du bloß?», frage ich das Mädchen im Spiegel. Sie antwortet nicht. Mit strahlenden Augen sieht sie mich an, als ob sie etwas weiß, von dem ich nichts ahne.
Ich bin nicht völlig von der Welt abgeschnitten. Angela schreibt mir ab und zu per E-Mail, berichtet über Rom und lässt mich in ihrer ureigenen Geheimsprache wissen, dass sie verblüffende Dinge über Engel erfährt. So schreibt sie etwa: Es ist jetzt dunkel draußen. Ich mache das Licht an, was ich damit interpretiere, dass sie viel Nützliches über Schwarzflügel in Erfahrung bringt. Als sie schreibt: Es ist so heiß hier, dass ich mich andauernd umziehen muss, will sie mir wahrscheinlich sagen, dass sie immer wieder übt, die Form ihrer Flügel zu verändern. Viel mehr verrät sie nicht; nichts über den geheimnisvollen italienischen Lover. Aber sie klingt glücklich. Als ob sie sich verdammt gut amüsiert.
Auch von Wendy höre ich gelegentlich, wann immer sie es zu einem Münzfernsprecher schafft. Sie hört sich erschöpft, aber zufrieden an; den ganzen Tag bringt sie mit den Pferden zu und lernt von den besten Tierärzten. Tucker erwähnt sie mit keinem Wort, sagt auch nichts darüber, dass ich so viel Zeit mit ihm verbracht habe, aber ich nehme an, sie ist voll und ganz im Bilde.
Als ich eine SMS von Christian bekomme, wird mir bewusst, dass ich eine ganze Weile schon nicht mehr an ihn gedacht habe, so sehr war ich mit den Unternehmungen mit Tucker beschäftigt. In der letzten Zeit habe ich nicht einmal die Vision gehabt. Und in dieser Woche hatte ich beinahe vergessen, dass ich ein Engelblut bin. Ich war einfach nur ein ganz gewöhnliches Mädchen in einem ganz normalen Sommer. Was schön war. Und mir ein schlechtes Gewissen macht, denn eigentlich sollte ich mich ja auf meine Aufgabe konzentrieren.
Die SMS von Christian lautet:
Bist Du schon mal an einem Ort gewesen, der Dir eigentlich gefallen sollte, aber Du hast immer nur an zu Hause gedacht?
Mysteriös. Und wie üblich bei Christian weiß ich nicht, was ich darauf antworten soll.
Ich höre, dass ein Auto die Auffahrt heraufkommt, und dann das Geräusch des Garagentors. Mama ist wieder da. Ich mache einen schnellen Rundgang durchs Haus, denn ich will mich davon überzeugen, dass alles ordentlich ist: das Geschirr abgewaschen, die Wäsche zusammengelegt, Jeffrey vollgefuttert oben in seinem Zimmer. Alles ist, wie es sein soll im Hause Gardner. Als sie reinkommt und dabei ihren riesigen Koffer hinter sich herschleppt, sitze ich mit zwei Gläsern Eistee an der Küchentheke.
«Willkommen zu Hause», sage ich fröhlich.
Sie stellt den Koffer ab und breitet die Arme aus, woraufhin ich von meinem Hocker
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