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Unearthly. Dunkle Flammen (German Edition)

Unearthly. Dunkle Flammen (German Edition)

Titel: Unearthly. Dunkle Flammen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cynthia Hand
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Jacke, eine wunderschöne Cordjacke in genau der Farbe von Mamas Usambaraveilchen auf der Fensterbank in der Küche. Sie wird vom Orangeton meiner Haare ablenken und das Blau meiner Augen hervorheben. Sie ist perfekt.
    «Ich weiß, du hast deinen Parka», sagt Mama, «aber ich dachte, du könntest etwas Leichteres gebrauchen. Und außerdem: In Wyoming kann man nie genug Jacken haben.»
    «Danke. Die ist toll.»
    Ich strecke die Hand aus, will die Jacke nehmen. Und in dem Augenblick, als meine Finger das weiche, samtige Gewebe berühren, bin ich in der Vision; ich gehe unter den Bäumen hindurch.
    Ich stolpere, dann falle ich und schramme mir die Innenfläche der rechten Hand auf. Seit Wochen hatte ich die Vision nicht mehr, seit dem Abschlussball, als ich mich mit Christian in den Armen von dem Feuer wegfliegen sah. Diesmal fühlt es sich für mich nicht so vertraut an wie sonst, als ich ihm auf dem Berghang entgegengehe. Aber er steht immer noch da und wartet auf mich, und als ich ihn sehe, rufe ich seinen Namen, und er dreht sich zu mir um, und ich laufe auf ihn zu. Mir wird bewusst, dass ich ihn vermisst habe, obwohl ich nicht weiß, ob ich das jetzt, in diesem Moment, so empfinde, oder ob es in der Zukunft so sein wird. Bei ihm fühle ich mich wie ein vollständiger Mensch. Das liegt an der Art, wie er mich ansieht, als ob er mich braucht. Mich und sonst keinen.
    Ich nehme seine Hand. Da ist auch wieder der Kummer, gemischt mit allem anderen: Freude und Furcht und Entschlossenheit und sogar einer Portion guter, alter Lust. All das spüre ich, aber sämtliche Emotionen werden von dem Kummer überschattet, von dem Gefühl, dass ich das Wichtigste auf der Welt verloren habe, auch in diesem Moment, da ich es zu erringen scheine. Ich neige den Kopf und schaue dorthin, wo unsere Hände sich berühren. Christians Finger sind so schlank wie die einer Chirurgenhand. Die Nägel sind ordentlich geschnitten, seine Haut ist glatt und fühlt sich beinahe heiß an. Mit dem Daumen streicht er über meine Knöchel, und ein Schauer durchzuckt mich. Dann merke ich es.
    Ich trage die violette Jacke.
    Ich komme wieder zu mir und sehe Mama neben mir auf ihrem Bett sitzen, die Arme hat sie mir um die Schultern gelegt. Sie lächelt verständnisvoll, ihr Blick ist besorgt.
    «Tut mir leid», sage ich.
    «Das muss es doch nicht, Dummchen», antwortet sie. «Ich weiß schließlich, wie das ist.»
    Manchmal vergesse ich, dass Mama früher auch einmal eine Aufgabe hatte. Das war wahrscheinlich vor hundert Jahren, als sie so alt war wie ich jetzt. Demnach müsste das (ich rechne schnell im Kopf nach) so ungefähr zwischen 1907 und 1914 gewesen sein. Und das bedeutet Damen in langen weißen Kleidern und Herren mit Zylinder und dicken, stoppeligen Schnurrbärten, es bedeutet Pferdekutschen, Korsetts, Leonardo DiCaprio, der seine Fahrkarte für die Titanic gewinnt. Ich versuche, mir Mama zu dieser Zeit vorzustellen, wie die Kraft ihrer Visionen sie erschüttert und wie sie im Dunkeln wach liegt und die Einzelteile zu einem sinnvollen Ganzen zusammensetzen und verstehen will, was von ihr erwartet wird.
    «Geht es dir gut?», fragt sie.
    «Ich werde die Jacke tragen», erwidere ich mit zittriger Stimme. Die Cordjacke liegt auf dem Boden neben dem Bett. Sie muss mir aus den Händen geglitten sein, als die Vision mich überfiel.
    «Schön», sagt Mama. «Sie wird dir bestimmt gut stehen.»
    «Nein. In der Vision. Da trage ich die Jacke.»
    Ihre Pupillen weiten sich leicht.
    «Es passiert.» Behutsam streicht sie mir eine Haarsträhne hinters Ohr. «Die Konturen werden schärfer. Es wird noch dieses Jahr passieren, in dieser Saison der Waldbrände, da bin ich mir ganz sicher.»
    Das ist in ein paar Wochen. In ein paar Wochen schon.
    «Was, wenn ich nicht bereit bin?»
    Wissend lächelt sie. Ihre Augen funkeln wieder von diesem seltsamen inneren Licht. Sie hebt die Arme, streckt sie über dem Kopf und gähnt. Sie sieht schon viel besser aus. Nicht mehr so erschöpft. Nicht so ausgebrannt und frustriert wegen allem. Sie ist wieder ganz die Alte, als wolle sie jeden Moment aufspringen und wieder mit mir trainieren, als ob sie sich auf meine Aufgabe freut und entschlossen ist, mir zum Erfolg zu verhelfen.
    «Du wirst bereit sein», sagt sie.
    «Woher weißt du das?»
    «Ich weiß es einfach», erklärt sie entschieden.

    Am nächsten Morgen schleiche ich leise die Treppe hinunter und mache mir schnell ein paar Frühstücksflocken zurecht. Ich stehe in

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