Unearthly. Heiliges Feuer (German Edition)
ich, du könntest jede Menge Spaß dort haben.»
«Ich werde drüber nachdenken», sage ich. Aber wenn ich mit Angela gehe, werden Tucker und ich getrennt sein. Wir werden so eine Art Fernbeziehung führen müssen, und nach richtig viel Spaß hört sich das für mich nicht gerade an.
Gegen vier Uhr früh krabbele ich wieder ins Bett, und jetzt bin ich total übermüdet; ich hoffe, ich finde noch ein paar Stunden Schlaf, ehe der Tag beginnt. Aber sofort werde ich in den Friedhoftraum hineingesogen, und das ist alles andere als erholsam. Ein paar Sekunden wehre ich mich dagegen, bin total desorientiert, als ich den Hügel hinaufstolpere. Ich versuche, ruhiger zu atmen, rufe mir ins Gedächtnis, dass ich ja an diesem Ort sein will, gebe mir Mühe, die sofort aufsteigende Verzweiflung und Panik zu unterdrücken, die ich bei der Frage empfinde, wer denn nun sterben wird. Sieh dich um , sage ich mir. Guck, wer nicht hier ist. Wer hier sein sollte und nicht hier ist.
Ich entdecke Jeffrey, genau wie immer. Ich rufe ihn. Er sieht mich nicht an, sagt nur: Lass uns einfach tun, was wir tun müssen , so wie er es jedes Mal macht. Ich würde ihn gern fragen: Wer ist es? Aber die Worte kommen mir nicht über die Lippen. Ich bin eingeschlossen in das, was die zukünftige Clara in diesem Augenblick tut, also vorwärtszugehen, sich darauf zu konzentrieren, einen Fuß vor den anderen zu setzen, und zu wünschen, sie könnte weinen. Wenn ich doch nur, verdammt noch mal, weinen könnte , denkt sie – denke ich –, dann wäre der Kummer vielleicht nicht so heftig .
Ich kann nichts anderes tun, als zu beobachten. Jetzt, da ich weiß, dass es ein Friedhof ist, scheint alles so offensichtlich. Alle tragen dunkle Kleidung. Hier und da fallen mir Grabsteine unter den Bäumen auf. Ich gebe mir Mühe, auf mehr zu achten als nur auf den Schmerz, der in meinem Kopf wütet.
Es ist Frühling, merke ich schnell. Das Laub an den Bäumen, das Gras, alles leuchtet in hellem Grün. Die Luft hat diesen frischgewaschenen Geruch, der sich nach einem Frühlingsregen einstellt, in dem man noch einen Hauch von Schnee erahnt. Am Hang des Hügels sprießen erste Wildblumen.
Es wird in diesem Frühling passieren.
Ganz deutlich erkenne ich Angela, die am äußersten Rand geht und ein langes lilafarbenes Kleid trägt. Da ist Mr Phibbs, mein Englischlehrer. Wenn ich es recht bedenke, erkenne ich mehrere Leute aus der Schule, vielleicht weil die Schule der einzige Ort in Jackson ist, an dem ich wirklich jemanden kenne. Ich sehe Mrs Lowell, die Schulsekretärin, und ihre rothaarige Tochter Allison. Kimber Lane, Jeffreys Freundin. Ava Peters. Wendy, die neben ihren Eltern geht und eine weiße Rose gegen die Brust presst. Ganz kurz sehe ich ihr Gesicht, das bleicher ist als gewöhnlich, ihre blauen Augen sind stark gerötet und geschwollen. Sie hat kein Problem mit dem Weinen.
Aber wer fehlt denn nun?
Warme Finger umschließen meine Hand. Ich schaue auf zu Christian. Er drückt mir die Hand. Ich sollte ihn nicht meine Hand halten lassen, denke ich. Ich gehöre zu Tucker.
Du schaffst das , höre ich Christian in meiner Vorstellung. Ihm ist keine Unsicherheit anzumerken. Kein Zögern. Er macht sich keine Gedanken darüber, dass Tucker jeden Moment auftauchen und ein Problem damit haben könnte, dass er meine Hand hält.
Auf einmal dreht sich mir der Magen um.
Tucker.
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Früher oder später
«Noch fünf Minuten, Leute.»
Politikunterricht. Ich sehe Tucker dabei zu, wie er in der Klausur die Fragen zur amerikanischen Verfassung zu beantworten versucht. Ich bin schon seit einer Viertelstunde fertig, also sitze ich da und beobachte ihn, wie er sich über sein Blatt beugt, die Stirn runzelt, innehält und in einem irren Rhythmus mit dem Bleistift auf sein Pult hämmert, als könnte das sein Gedächtnis beflügeln. Die Sache läuft offenbar nicht so gut.
Zu jeder anderen Zeit hätte ich ihn anbetungswürdig gefunden, so gequält und angestrengt vor lauter Konzentration. Aber jetzt kann ich nur denken: Wen kümmert schon eine dämliche Politikklausur? Du wirst sterben. Und es ist meine Schuld, irgendwie.
Hör auf. Hör auf damit, so etwas zu denken. Du weißt das doch gar nicht sicher.
Aber es fühlt sich so an, als wüsste ich es. Ich bin zu der Schlussfolgerung gekommen, dass Tucker bei dem Waldbrand hätte sterben sollen. Hätte ich meine Aufgabe erledigt, wäre ich nicht zu ihm hingeflogen, um ihn zu retten, wäre er da in den
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