Unearthly. Heiliges Feuer (German Edition)
Wäldern oberhalb von Palisades umgekommen. Das war sein Schicksal. Ich hätte mich für Christian entscheiden sollen. Tucker hätte sterben sollen. Jetzt, mit diesem neuen Traum, hat es den Anschein, als sollte alles noch mal von vorn anfangen. Christian und ich, und wir gehen wieder in den Wald. Und Tucker ist tot.
Nur ist es diesmal kein Entschluss, den ich in Sekundenschnelle fassen muss. Diesmal habe ich monatelang Zeit, um darüber nachzugrübeln.
Und das ist die andere Erkenntnis, zu der ich gelangt bin: Es spielt überhaupt keine Rolle, wie viel Zeit zum Nachdenken mir bleibt. Ich werde mich immer wieder für Tucker entscheiden. Es ist mir egal, ob ich damit meine Aufgabe vermassele.
Ich werde ihn nicht sterben lassen.
Das Problem ist bloß, dass ich keine Ahnung habe, wie es passieren wird, also weiß ich auch nicht, wie ich es verhindern kann. Es ist wie in diesem Film Final Destination , wo die Leute bei einem Flugzeugunglück ums Leben kommen sollen, aber sie steigen lebend aus dem Flugzeug aus, und so kommt der Tod und bringt sie zur Strecke, einen nach dem anderen, weil es vorgesehen war, dass sie sterben . Ich habe mir die verrücktesten Szenarien durch den Kopf gehen lassen: a) Tucker wird in einen Autounfall verwickelt, b) er erstickt beim Essen an einem Stück Fleisch, c) er wird vom Blitz getroffen, weil es einfach nicht mehr aufhören will zu regnen, d) er rutscht in der Dusche aus, stürzt und ertrinkt, oder e) ein Meteor fällt auf sein Haus. Aber was kann ich dagegen tun? Schließlich bin ich ja nicht ständig bei ihm. Ich bin schon so krank vor Angst, dass ich mitten in der Nacht ein paar Mal zu seinem Haus geschlichen bin und ihn im Schlaf beobachtet habe, nur für den Fall, dass sich, na ja, keine Ahnung, seine Comic-Sammlung spontan zur Selbstverbrennung entschließt. Das war blöd und zugegebenermaßen ziemlich unheimlich, ein bisschen wie bei Edward Cullen, dem Vampir aus den Twilight-Büchern, aber es war das Einzige, das mir einfiel. Zum Glück macht er nicht mehr bei diesen Rodeos mit, denn ich glaube nicht, dass ich es ertragen könnte, ihm bei dem Versuch zuzusehen, einen Bullen zu reiten.
Ich habe mich also zu seinem Schutzengel ernannt. Außerdem habe ich ihn die ganze Woche morgens mit dem Wagen abgeholt und uns so langsam und vorsichtig zur Schule chauffiert, dass er mich schon damit aufgezogen hat, wie eine alte Oma zu fahren. Er hat natürlich gemerkt, dass irgendwas nicht stimmt. Tucker entgeht nie etwas. Dazu kommt, dass ich nicht gerade zurückhaltend mit dem Problem umgehe, dass mein Freund womöglich sterben wird, ich neige zum Überreagieren.
Heute Vormittag zum Beispiel. Es war Frühstückspause, und wir saßen im Aufenthaltsraum, als es am anderen Ende des Raums plötzlich einen lauten Knall gab. Und ich konnte mich einfach nicht beherrschen. Ich habe mich blitzschnell bewegt, zu schnell, so schnell, dass Mama ausgeflippt wäre, hätte sie es gesehen, denn ich wollte mich schützend zwischen Tucker und dieses Geräusch werfen. Dann stand ich also da, wartete, die Hände zu Fäusten geballt, bis ich ein paar Jungs über den Trottel lachen hörte, der auf eine Dose Mineralwasser – eine Dose Wasser! – getreten hatte, die daraufhin förmlich explodiert war, und jetzt beglückwünschten ihn in seiner Clique alle zu seinen umwerfenden Krachmacherqualitäten.
Und Tucker starrte mich an. Wendy auch, die Hand mit dem Bagel war auf halbem Weg zu ihrem Mund stehen geblieben. Alle an meinem Tisch starrten.
«Boah», sagte ich atemlos und musste mir von einem Moment auf den anderen eine Ausrede einfallen lassen. «Das hat mich aber jetzt erschreckt. So was sollten die Leute einfach nicht machen.»
«Was? Dosen zertreten?», fragte Wendy. «Du bist aber ganz schön schreckhaft, oder?»
«He, ich komme aus Kalifornien», versuchte ich zu erklären. «Wenn wir in die Schule wollten, mussten wir durch eine Metalldetektorschleuse.»
Tucker starrte mich immer noch an, die Stirn so sehr gerunzelt, dass seine Augenbrauen wie zusammengewachsen schienen.
Wenn ich ihm jetzt so zuschaue, wie er mit seiner Klausur kämpft, überlege ich, ob ich es ihm erzählen soll. Ich könnte es ihm sagen, und dann gäbe es keine Geheimnisse zwischen uns, keine Lügen. Das wäre ehrlich. Aber es wäre auch schrecklich. Selbstsüchtig.
Denn was, wenn ich nun falschliege? Schließlich hab ich ja bei meiner letzten Vision auch gedacht, dass ich Christian retten muss. Und war völlig auf dem
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