Unearthly. Himmelsbrand (German Edition)
ich sagte, ich wolle keine Angst haben. Dass ich immer, in der einen oder andere Form, vor etwas davonlaufe.
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Der weiße Palisadenzaun
Diesmal ist jemand anderes bei mir in der Schwärze, der Atem eines anderen ist irgendwo hinter mir.
Sehen kann ich immer noch nichts, kann nicht sagen, wo ich bin, auch wenn ich die Vision inzwischen zum x-ten Mal erlebe. Es ist dunkel, wie immer. Ich versuche, ruhig zu bleiben, versuche, mich nicht zu bewegen – nicht einmal zu atmen –, deshalb kann ich meine Umgebung auch nicht erforschen. Der Boden ist nach unten geneigt. Mit Teppich belegt. In der Luft hängt ein schwacher Geruch nach Sägemehl, frischer Farbe und dazu: die Spur eines entschieden männlichen Duftes, wie Deodorant oder Aftershave, und dann das Atmen. Ganz nah, denke ich. Würde ich mich umdrehen und die Hand ausstrecken, könnte ich ihn berühren.
Schritte über uns: schwerfällig und nachhallend, wie von mehreren Menschen, die eine hölzerne Treppe hinuntergehen. Mein Körper ist extrem angespannt. Man wird uns finden. Irgendwie weiß ich das. Hundertmal habe ich es in meinen Visionen gesehen. Jetzt sehe ich es wieder. Es soll endlich vorbei sein, ich will den Glanz hervorrufen, aber ich tue es nicht, weil die entfernte Möglichkeit besteht, dass es diesmal nicht funktioniert. Aber die Hoffnung bleibt.
Hinter mir erklingt ein Geräusch, seltsam und hoch, wie das Aufheulen einer Katze oder ein Vogelruf. Ich drehe mich zu dem Geräusch um.
Einen Moment lang nur Stille.
Dann explodiert ein Lichtstrahl, blendet mich. Ich zucke zurück davor.
«Clara, komm runter», brüllt eine Stimme, und in diesem wilden, polternden Moment weiß ich auf einmal, wer da bei mir ist – seine Stimme würde ich überall erkennen –, und ich werfe mich nach vorn, stoße mich ab, denn tief in mir drin weiß ich, dass ich jetzt laufen muss.
Ich wache auf, als mir ein Sonnenstrahl ins Gesicht scheint. Ich brauche einen Moment, ehe ich begreife, wo ich bin: in meinem Zimmer im Wohnheim Roble. Licht ergießt sich durchs Fenster. Die Glocken der Memorial Church läuten in der Ferne. Der Geruch von Waschpulver und den Resten gespitzter Beistifte liegt in der Luft. Seit gut einer Woche bin ich jetzt in Stanford, und dieses Zimmer fühlt sich immer noch nicht wie zu Hause an.
Meine Beine haben sich in den Laken verfangen. Ich muss wirklich versucht haben zu laufen. Eine Weile liege ich da, atme tief aus dem Bauch heraus und versuche, mein rasendes Herz zu beruhigen.
Christian ist da. In der Vision. Bei mir.
Natürlich ist Christian da, denke ich und bin immer noch wütend auf ihn. Er war auch in allen anderen Visionen, die ich bis jetzt hatte, also wieso sollte das diesmal anders sein?
Darin liegt ein gewisser Trost.
Ich richte mich auf und schaue zu Wan Chen, die in dem Bett auf der anderen Seite des Zimmers schläft und dabei leise schnaufend schnarcht. Ich befreie mich aus den Laken, ziehe Jeans und ein Kapuzenshirt an, zwänge mein Haar in einen Pferdeschwanz und versuche, dabei so leise zu sein wie möglich, um sie nicht aufzuwecken.
Als ich aus dem Gebäude komme, sitzt ein großer Vogel auf einem Laternenmast in der Nähe des Wohnheims, eine dunkle Form vor dem morgendämmrig grauen Himmel. Er wirbelt herum, sieht mich an. Ich bleibe stehen.
Ich hatte immer schon eine seltsame Beziehung zu Vögeln. Schon bevor ich wusste, dass ich ein Engelblut bin, war mir klar, dass es ungewöhnlich war, wie still die Vögel wurden, wenn ich vorbeiging, wie sie mir folgten und mich manchmal umkreisten, im Grunde nicht aggressiv, aber auf eine Art, als wollten sie mir sagen: wollen wir dich doch mal aus der Nähe betrachten. Wohl eine der Begleiterscheinungen, wenn man selbst Flügel und Federn hat, auch wenn sie die meiste Zeit verborgen sind; man erregt eben die Aufmerksamkeit anderer geflügelter Wesen.
Als ich einmal mit Tucker beim Picknick in den Wäldern war, schauten wir hoch und unser Tisch war von Vögeln umlagert – nicht nur von den üblichen Eichelhähern, die sich die Essensreste holen wollen, sondern von Lerchen, Schwalben, Zaunkönigen, sogar einer Art Kleiber, die laut Tucker extrem selten sind; und alle saßen in den Bäumen um unseren Tisch herum.
«Du bist wie eine Comicfigur von Disney, Karotte», zog Tucker mich auf. «Du solltest sie dazu bringen, dir ein Kleid oder so was zu machen.»
Aber bei diesem Vogel habe ich irgendwie ein anderes Gefühl. Es ist eine Krähe, glaube ich:
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