Unearthly. Himmelsbrand (German Edition)
letzten Stunden auf Erden sein.
Was soll ich tun? Was würde ich, wenn sich jetzt alles ändert, am meisten vermissen?
Die Antwort schwebt mir zu wie eine Melodie im Wind.
Ich muss fliegen.
Es ist stürmisch am Big Basin Redwoods State Park. Ich klettere schnell, mühelos, das Adrenalin in meinen angespannten Nerven verleiht mir mehr Geschwindigkeit als sonst. Dann nehme ich meinen Platz auf dem Felsen ganz oben am Buzzards Roost ein, lasse die Beine über den Rand baumeln und starre hinaus auf das blauschwarze Gewirr von Wolken, das schwer über dem Tal hängt.
Keine guten Flugbedingungen. Kurz überlege ich, ob ich es vielleicht irgendwo anders versuchen soll – in den Tetons zum Beispiel, per Teleportation –, aber das mache ich dann doch nicht. Dies ist unser Platz zum Denken, Moms und meiner, also sitze ich da und denke. Ich versuche, mit dem, was womöglich passieren wird, meinen Frieden zu machen.
Ich erinnere mich wieder an den Tag, an dem Mom mich zum ersten Mal hierhergeführt und mir vorsichtig beigebracht hat, dass ich ein Engelblut bin. Du bist etwas Besonderes , hatte sie immer wieder gesagt, und als ich sie daraufhin ausgelacht und sie als verrückt bezeichnet habe, als ich geleugnet habe, dass ich schneller, stärker oder klüger sei als alle anderen vollkommen normalen Mädchen im Teenageralter, die ich kannte, hatte sie gesagt: So oft tun wir nur das, was unserer Meinung nach von uns erwartet wird. Dabei können wir sehr viel mehr leisten.
Würde sie gutheißen, was ich nun tun will, diesen Sprung, den ich wagen will? Würde sie zu mir sagen, ich sei verrückt, wenn ich denke, ich könnte das Unmögliche schaffen? Oder würde sie mir, wenn sie jetzt hier wäre, sagen, ich solle tapfer sein? Sei tapfer, mein Liebes. Du bist stärker, als du glaubst.
Ich muss mir eine Geschichte einfallen lassen, die ich Samjeeza erzählen kann, rufe ich mir ins Gedächtnis. Das ist der Preis, den ich zahlen muss. Eine Geschichte über Mom.
Aber welche Geschichte?
Etwas über meine Mutter, das meine Mutter von ihrer besten Seite zeigt, denke ich – voller Leben, wunderschön, witzig, all das, was Samjeeza am meisten an ihr liebte. Die Geschichte muss gut sein.
Ich schließe die Augen. Ich denke an die Familienvideos, die wir uns in den Tagen vor ihrem Tod angesehen haben, all die wie eine Patchworkdecke der Erinnerungen aneinandergereihten Momente: Mom am Weihnachtsmorgen mit einer Weihnachtsmannmütze, Mom jubelnd unter den Zuschauern bei Jeffreys erstem Footballspiel, Mom am Strand von Santa Cruz, wie sie sich bückt und einen runden, perfekten Sanddollar findet, einen von diesen ganz besonders flachen Seeigeln, oder der Halloween-Abend, an dem wir ins Winchester Mystery House gegangen sind und sie am Ende viel mehr Angst hatte als wir und wir sie aufgezogen haben – o Mann, was haben wir sie aufgezogen! – und sie gelacht und sich an uns geklammert hat, Jeffrey auf der einen Seite, ich auf der anderen, und sie sagte: Lasst uns heimgehen. Ich will ins Bett und mir die Bettdecke über den Kopf ziehen und so tun, als gäbe es nichts auf der Welt, was einem Angst machen kann.
Eine Million Erinnerungen. Unzählige Male Lächeln und Gelächter und Küsse. Die Art, wie sie mir immer gesagt hat, dass sie mich liebt, jeden Abend, wenn sie mich ins Bett gebracht hat. Wie sie immer an mich geglaubt hat, ob es nun um eine Mathe-Arbeit oder eine Ballettaufführung ging oder darum, dass ich herausfinden sollte, was meine Aufgabe auf dieser Welt sein würde.
Aber das ist nicht die Art Geschichte, die Samjeeza hören will, oder? Vielleicht ist das, was ich ihm gebe, nicht gut genug. Vielleicht erzähle ich ihm etwas, und er lacht, wie er das immer macht, so voller Spott, und dann wird er mich doch nicht in die Hölle bringen.
Ich könnte bei dieser Aufgabe versagen, ehe ich überhaupt begonnen habe.
Mir ist schwindlig, und ich öffne die Augen, stehe wacklig und unsicher am Rand des Felsens. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich das Gefühl, dass ich zu hoch oben bin. Ich könnte fallen.
Ich stolpere vom Rand zurück, das Herz hämmert mir in der Brust.
Wow. Der Druck ist einfach zu stark, denke ich. Ich reibe mir die Augen. Es ist einfach zu viel!
Ein Windstoß trifft mich, warm und drängend an meinem Gesicht, und mein Haar sucht sich diesen Moment, um sich aus dem Pferdeschwanz zu lösen und um mich herum zu wehen, mir in die Augen zu fallen. Ich huste und versuche, es zurückzustreichen. Ungefähr
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