Unearthly. Himmelsbrand (German Edition)
war.
«Irgendwas mit L», erwidert Billy. «Lass mich mal nachdenken.»
«Lucy?», bringe ich mühsam heraus.
«Ja, genau», sagt Billy. «Ach du meine Güte!», ruft sie plötzlich aus, als sie begreift, worauf ich hinauswill.
Lucy steht schon sehr lange mit Jeffrey in Kontakt, und wir hatten keine Ahnung. Sie haben die ganze Zeit über in unserem alten Haus zusammen gewohnt.
«Mom hat es gar nicht verkauft», sage ich leise zu mir selbst.
Mom hat genau gewusst, dass ich weglaufen würde , hatte er mir erzählt. Sie hat mich sogar irgendwie darauf vorbereitet.
Als ich bei unserem Haus eintreffe, sind die Fenster geschlossen, kein Auto steht auf der Auffahrt, kein Fahrrad lehnt an der Garage. Wir hatten immer einen Ersatzschlüssel unter einer Fliese auf der Terrasse hinten deponiert. Ich springe über den Zaun in den kleinen Garten. Die Sitze meiner alten Schaukel schwingen sacht, als ich vorbeigehe.
Ach, schlaue, gerissene Mom!
Es ist nicht so, dass sie sich aus Jeffreys Vision nichts gemacht hat oder an ihr nicht so interessiert und beteiligt war wie an meiner. Sie wusste, wie diese Vision enden musste. Sie wusste, was er brauchen würde. Ich kann mir nicht helfen, irgendwie ärgert mich das. Es ist, als hätte sie die Schwierigkeiten, in denen wir jetzt stecken, mit verursacht.
Der Ersatzschlüssel ist genau da, wo ich ihn vermutet habe. Mir zittern die Hände, als ich die Tür aufschließe und ins Haus trete.
«Jeffrey?», rufe ich.
Stille.
Ich schicke ein kleines Gebet in den Himmel, in der Hoffnung, dass mir jetzt nicht Lucy über den Weg läuft. Das wäre nicht gerade günstig.
Ich sehe mich in der Küche um. Ein Stapel Schmutzgeschirr steht im Spülbecken. Ich mache den Kühlschrank auf und stelle fest, dass er fast leer ist, bis auf eine Drei-Liter-Großpackung Schokoladenmilch, die seit einer Woche abgelaufen ist, und etwas in Folie Gewickeltes, das ich für ein Stück alte Pizza halte. Aber bei dem Schimmelbelag lässt sich das nicht so genau sagen.
Noch einmal rufe ich Jeffreys Namen, dann gehe ich nach oben in sein Zimmer. Er ist nicht da, aber das Bett ist bezogen, wenn auch völlig zerwühlt. Die Schubladen seiner alten Kommode, der Kommode, die Mom vor unserem Umzug nach Wyoming entsorgen wollte – tatsächlich hatte ich mich damals noch beschwert, weil Jeffrey eine komplette neue Schlafzimmereinrichtung bekam, ach, schlaue, gerissene Mom –, sind voll mit seinen Sachen. Es riecht hier im Zimmer sogar nach ihm.
Ich durchwühle die Schubladen, suche nach Anhaltspunkten, finde nichts.
Ganz offensichtlich hat er hier bis vor kurzem gewohnt. Und ist jetzt nicht mehr da. Wenn ich dann noch bedenke, dass er seit einer Woche nicht mehr bei der Arbeit war, ist es wohl kein Wunder, dass ich jetzt höchst offiziell besorgt bin.
Gerade jetzt könnte Lucy ihn haben. Oder Asael. Oder er könnte …
Ich erlaube mir nicht, das Wort tot zu denken, lasse nicht zu, dass ein Bild von Jeffrey mit einem Kummerdolch im Herzen vor meinem inneren Auge erscheint. Ich muss daran glauben, dass er irgendwo da draußen und am Leben ist.
Ich setze mich auf sein Bett und suche in meiner Handtasche nach einem Stückchen Papier und einem Stift. Auf die Rückseite von einem Kassenbon aus einem Lebensmittelladen in Nebraska schreibe ich die folgende Notiz:
Jeffrey,
ich weiß, du bist wütend auf mich. Aber ich muss unbedingt mit dir reden. Ruf mich an. Bitte denk dran, dass ich immer auf deiner Seite bin.
Clara
Ich hoffe, er bekommt die Nachricht.
Als ich wieder draußen bin, verstecke ich den Schlüssel unter derselben Fliese, unter der ich ihn hervorgeholt habe, werfe einen letzten langen Blick auf das Haus, in dem ich aufgewachsen bin, und frage mich, ob ich es nach dem heutigen Abend je wieder zu Gesicht bekommen werde und ob ich je wieder die Gelegenheit haben werde, mit meinem kleinen Bruder zu sprechen.
Sehr bald schon werde ich einen Zug erreichen müssen.
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Du wirst mich wiedersehen
Irgendwann an diesem Nachmittag frage ich mich, was ich bis zum Einbruch der Nacht noch tun soll. Ich schaue auf die Uhr. Mir bleiben noch einige Stunden, ehe ich mich auf den Weg zum Bahnhof machen muss.
Ehe ich mich in die Hölle begebe.
Ich sollte irgendetwas Leichtsinniges tun, denke ich. Irgendetwas, das Spaß macht. Achterbahn fahren. Eine Waggonladung Schokoladeneis mit Nüssen und Marshmallows essen. Irgendetwas lachhaft Teures auf Kredit kaufen. Denn dies könnten durchaus meine
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