Unearthly. Himmelsbrand (German Edition)
dass der Chauffeur weder Augen noch Mund hat, nur eine glatte Masse Haut von der Nase bis zum Kinn und zwei leichte Vertiefungen in seinem Gesicht, wo die Augenhöhlen sein sollten. Trotzdem scheint er uns anzusehen, als wir hinter Samjeeza stehen bleiben, und wortlos stellt er eine Frage:
Wohin?
«Ich will diese beiden für Asael kennzeichnen lassen», sagt Samjeeza. Er führt einen Finger an die Lippen, und die Botschaft an uns ist eindeutig: Dieser Mann kann nicht sprechen, aber er kann hören. Seid still.
Der Chauffeur nickt einmal.
Ich spüre Christians Angst bei der Erwähnung von Asaels Namen wie einen Adrenalinstoß, der meinen Körper trifft. Es könnte eine Falle sein. Und wir spazieren direkt auf sie zu.
Genau genommen werden wir standesgemäß chauffiert , sage ich, um die Situation etwas aufzulockern, aber Christian hat keine Gelegenheit mehr zu antworten. Samjeeza legt ihm die Hand auf den Rücken und schiebt ihn auf den Rücksitz, ich folge. Samjeeza gleitet neben mich, seine Schulter berührt jetzt meine, und es gefällt ihm, dieser dezente, verführerische Körperkontakt, mein menschlicher Geruch, die Art, wie sich meine Lippen vor Entsetzen leicht öffnen. Ihm gefällt, dass sich eine Strähne meines Haars aus dem Pferdeschwanz löst, aus der Kapuze rutscht, dass sie in dieser farblosen Welt in reinem Weiß leuchtet.
Ich presse mich enger an Christian, der abwartet, bis Samjeeza die Wagentür geschlossen hat, ehe er den Arm um mich legt, meinen Kopf an seine Schulter zieht, weg von Sam.
Ach, wie fürsorglich , sagt Sam in unseren Köpfen. Wer bist du doch gleich? Ich dachte, sie sei in jemand anderen verliebt.
Christian beißt die Zähne zusammen, sagt aber nichts.
Schnell durchqueren wir die Höllenversion der Stadtmitte von Mountain View, vorbei an Church und Mercy Street, am Rathaus, vor dem in einer Reihe die grauen Menschen warten; vorbei an Geschäften und Restaurants, manche verbarrikadiert, andere geöffnet. Darin sitzen Leute jeweils allein an einem Tisch über Schüsseln nicht identifizierbaren Essens. Wir erreichen das, was die El Camino Road wäre, die Hauptverkehrsstraße, die all die kleinen Orte zwischen San Francisco und San José verbindet, dann biegen wir Richtung Süden ab. Immer noch sind keine anderen Autos auf der Straße.
Seid ihr überrascht von der Hölle? , fragt Samjeeza wortlos. Seine innere Stimme hat etwas Beißendes, etwas Brennendes, wie der Nachgeschmack von etwas Bitterem.
Ich habe wohl nicht damit gerechnet, dass es Restaurants und Geschäfte geben würde.
Es ist eine Spiegelung der Erde , sagt er. Was auf der Erde gilt, gilt mehr oder weniger auch hier.
Und all diese Menschen sind hier gefangen? Ich deute durchs Fenster auf die Mengen grauer Leute, die durch die Straßen drängen, immer auf dem Weg irgendwohin, wie es scheint, gleichzeitig aber ziellos, ohne wirkliche Richtung.
Gefangen nicht, aber festgehalten. Die meisten begreifen nicht, dass sie in der Hölle sind. Sie sind gestorben und wurden an diesen Ort gebracht, weil sie selbst genau hierherwollten. Wenn sie wollten, könnten sie fort, aber dazu werden sie sich nie entschließen.
Wieso nicht?
Weil sie von dem, was sie hierhergebracht hat, nicht lassen wollen.
Wir biegen auf einen Parkplatz ab, und der Wagen kommt kreischend zum Stehen.
Denkt an das, was ich euch gesagt habe , meint Samjeeza. Sprecht mit niemandem außer mit eurer Freundin, und das auch erst, wenn ich es euch sage.
Der Chauffeur öffnet uns die Wagentüren, und wir steigen aus. Ich halte den Atem an, als ich sehe, wo wir gelandet sind.
In einem Tattoo-Studio.
Samjeeza schiebt uns auf das Gebäude zu, dann öffnet er die Tür und hält sie uns auf, wir gehen hinein. Alles hier ist schwarzweiß, die Ledersofas sind von einem tiefen Holzkohlengrau, die große Neoninschrift TATTOO leuchtet in einem kräftigen, ins Auge stechenden Weiß, die Muster an den Wänden flattern wie aufgescheuchte Vögel in dem plötzlichen Windstoß, den wir hereingelassen haben. Der Boden ist schmutzig; wir spüren etwas Klebriges und Staub unter unseren Füßen. Einen Moment lang stehen wir im Empfangsbereich, warten. Im Wasserbehälter steigt eine Blase hoch: graues Wasser in einem grauen Behälter.
Dann: ein erstickter Schrei irgendwo im Gebäude.
Ein Mann kommt aus dem hinteren Bereich, ein kleiner, dünner, schwarzer Mann mit glatt rasiertem Schädel. Ein Engel, denke ich, wenn auch ganz anders als alle, die ich bisher gesehen habe.
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