Unearthly. Himmelsbrand (German Edition)
eine Reise.» Er sieht sich um. «Ich habe dir doch gesagt, du sollst einen Freund mitbringen.»
«Hast du Freunde, die für dich in die Hölle gehen würden?», frage ich und gebe mir Mühe, meine Unterlippe vom Zittern abzuhalten.
Sein Blick ist durchdringend. «Nein.»
Er hat keine Freunde. Er hat niemanden.
Er macht tz, tz, als sei er enttäuscht von mir. «Es wird nicht funktionieren ohne einen, der dir Halt gibt.»
«Du könntest mir Halt geben», sage ich und hebe den Kopf.
Samjeeza zieht einen Mundwinkel hoch. Er beugt sich vor, berührt mich nicht, ist aber nah genug, um mich in den Kokon von Kummer einzuhüllen, der ihn stets umgibt. Es ist eine Qual, die tief in den Eingeweiden schmerzt, als wäre alles Schöne und alles Licht dieser Welt verwittert und abgestorben, in meinen Händen zu Asche zerfallen. Ich kann nicht atmen, kann nicht denken.
Wie konnte Mom diesem Geschöpf so nahe kommen? Aber sie hatte nie dieses besondere Einfühlungsvermögen, wie ich es habe. Sie hat nicht wissen können, wie schwarz und markerschütternd kalt er innerlich wirklich ist und wie gebrochen.
«Ist es das, woran du gebunden sein willst?», fragt er mit rasselnder Stimme.
Ich mache einen Schritt zurück und hole keuchend Luft, als ich endlich wieder atmen kann, so als habe er mich gewürgt.
«Nein.» Ich zittere.
«Das hab ich mir gedacht», sagt er. «Ach, na ja.» Er schaut die Gleise hinunter, wo ich in der Ferne das schwache Pfeifen eines sich nahenden Zuges höre. «Ist wahrscheinlich besser so», meint er.
Ich werde meine Chance verpassen.
«Warte!»
Ich drehe mich um und sehe Christian über die Gleise laufen, er trägt seine dunkle Fleecejacke und graue Jeans, die Augen hat er weit aufgerissen, seine Stimme ist atemlos, als er ruft: «Ich bin da!»
Hastig atme ich aus. Ich kann nicht anders, ich muss lächeln. Er kommt zu mir, und wir umarmen uns, klammern uns eine Weile aneinander fest und murmeln «tut mir leid» und «ich bin ja so froh, dass du da bist» und «das hätte ich um nichts in der Welt versäumen mögen» und «du musst das nicht machen, wirklich nicht», und so immer hin und her, manchmal laut, manchmal in Gedanken.
Samjeeza räuspert sich, und wir lösen uns voneinander und drehen uns zu ihm um. Er legt den Kopf schief, sieht Christian an.
«Wer ist das?», fragt er. «Gesehen habe ich ihn schon. Wie ein liebeskranker kleiner Hund läuft er dir hinterher. Ist das einer von den Nephilim?»
Christian zieht scharf die Luft ein. Er hat Samjeeza noch nie gesehen, war noch nie einem Schwarzflügel so nahe. Einen Moment lang überlege ich, ob er sich womöglich geirrt hat, als er meinte, er habe Asael gesehen. Asael und Samjeeza sehen sich so ähnlich, dass er die beiden vielleicht verwechselt hat. Möglich wäre es. Dies könnte immer noch auch seine Vision sein.
«Er ist ein Freund», bringe ich heraus und greife nach Christians Hand. Sofort fühle ich mich stärker, ausgeglichener, konzentrierter. Wir schaffen das. «Du hast gesagt, ich brauche einen Freund, und hier ist er. Jetzt kannst du uns zu Angela bringen.»
«Vergessen wir da nicht eine Kleinigkeit?», fragt Samjeeza. «Deine Bezahlung?»
Was für eine Bezahlung? , will Christian wortlos von mir wissen. Was für eine Bezahlung, Clara? Was hast du ihm versprochen?
«Ich habe es nicht vergessen.»
Der Zug kommt näher, vorn hat er ein trübes rotes Licht, er fährt auf uns zu. Jetzt muss ich mich beeilen.
«Ich habe eine Geschichte», sage ich zu ihm. «Aber ich werde sie dir zeigen.»
Ich strecke die freie Hand aus und berühre Samjeezas Wange, die glatt und kühl ist, unmenschlich. Sein Kummer strömt in mich, lässt Christian aufstöhnen, als er durch mich fährt und in ihn hinein, aber ich stemme mich dagegen, drücke Christians Hand fester und konzentriere mich auf heute, auf die Stunde mit meiner Mutter oben am Buzzards Roost. Ich versenke es in Sams schockierten, aufnahmebereiten Geist: ihre Stimme, die die Geschichte erzählt, den Wind, der ihr rotbraunes Haar aufbauscht, was sie fühlte, als sie die Geschichte erzählte, die warme, sanfte Umklammerung ihrer Hand, die meine hält, und schließlich die Worte.
Ich habe gelogen.
Ich habe ihn geliebt.
Samjeeza zuckt zurück. Es ist mehr, als er erwartet hat. Ich spüre, wie er unter meiner Hand zu zittern beginnt. Ich lasse ihn los.
Wir warten auf seine Reaktion. Der Zug nähert sich dem Bahnhof. Es ist ein anderer als der Zug Richtung Norden; dieser hier ist mit
Weitere Kostenlose Bücher