Unearthly. Himmelsbrand (German Edition)
, denkt sie.
Nein. Das werde ich nicht zulassen, nicht noch einmal. Ich packe sie bei den Schultern, zwinge sie, mich anzusehen. «Angela. Ich liebe dich, um Himmels willen. Glaubst du etwa, ich wäre diesen ganzen Weg gegangen, in die verdammte Hölle gekommen, um dich zu retten, wenn ich dich nicht lieben würde? Ich liebe dich. Web liebt dich, und, was noch wichtiger ist, er braucht dich, Ange, er braucht seine Mutter, und wir dürfen mit deinem Selbstmitleid nicht noch mehr Zeit verschwenden. Und jetzt steh auf !», befehle ich ihr. Und genau in diesem Moment schicke ich den denkbar kleinsten Funken himmlischen Glanz direkt in ihren Körper.
Angela zuckt, dann blinzelt sie, entsetzt, als hätte ich ihr ein Glas Wasser ins Gesicht geschüttet. Sie sieht erst Christian, dann mich an, dann wieder Christian, und sie staunt mit großen Augen.
«Angela», flüstere ich. «Geht es dir gut? So sag doch was.»
Ihre Lippen verziehen sich ganz langsam zu einem Lächeln.
«Junge», meint sie. «Wer ist denn gestorben und hat dich zum Boss gemacht?»
Wir starren sie an. Sie springt auf. «Los, wir gehen jetzt.»
Keine Zeit zum Jubeln. Wir schlüpfen auf den Flur, zurück in den menschenleeren Wartebereich. Wir brauchen gerade einmal zwei Sekunden, um zur Tür hinaus und auf die Straße zu gelangen. Wir halten uns eng beieinander. Christian führt uns nach Norden, in Richtung Bahnhof, ich folge dicht hinter ihm, versuche, Schritt zu halten, um eine Art vagen Körperkontakt zwischen uns zu wahren, und Angela eilt hinterher. So im Gänsemarsch gehen wir an ein paar schmuddeligen, heruntergekommenen Wohnhäusern vorbei bis zur Palo Alto Street, die auf der Erde eine reizvolle, heimelig amerikanische Atmosphäre hat, in der Hölle aber wie aus einem Hitchcock-Film wirkt, gesäumt von knorrigen, blattlosen schwarzen Bäumen, die nach uns zu greifen scheinen, als wir vorbeihuschen. Die Häuser verfallen, in den Fenstern sind noch Reste der zerbrochenen Scheiben zu sehen oder sie sind verbarrikadiert, in grauen Fetzen blättert die Farbe ab. Wir kommen an einer Frau vorbei, die in einem Vorgarten steht und einen Schlauch in der Hand hält, mit dem sie einen Flecken graslosen, schlammigen Boden wässert und dabei etwas von Blumen vor sich hin murmelt. Wir sehen einen Mann, der einen Hund prügelt. Aber wir bleiben nicht stehen. Wir dürfen nicht stehen bleiben.
Die heruntergekommene Gegend weicht einem offeneren, großzügigeren Stück Innenstadt mit Geschäften, Restaurants und Büros. Angela sieht sich um, als habe sie das alles noch nie gesehen, was ich merkwürdig finde, denn schließlich ist sie seit fast zwei Wochen hier. In der Nähe der Bibliothek stoßen wir auf die Mercy Street, und das Rathaus ragt über uns in die Höhe, ein riesiges Granitgebäude mit zahlreichen geschwärzten Fenstern, und auf einmal strömen wieder Massen grauer Leute durch die Straße, die stöhnen und schreien und sich an der Haut zupfen. Wir kommen nur mühsam voran, denn die verlorenen Seelen auf dem Bürgersteig gehen größtenteils nach Süden, in die falsche Richtung. Wir sind wie Fische, die sich gegen die Strömung flussaufwärts kämpfen, aber immerhin kommen wir unserem Ziel näher, langsam, Schritt für Schritt. Es fühlt sich an, als mühten wir uns schon Stunden vorwärts, aber länger als fünf oder zehn Minuten können wir noch nicht unterwegs sein.
Bald, sehr bald schon, werden sie merken, dass wir weg sind.
Wir spazieren einfach raus hier? , denkt Angela ungläubig.
So sieht unser Plan aus. Ich nicke ihr kaum merklich zu, weil ich nicht sicher bin, ob sie mich hören kann. Wir sind nicht hinter Schloss und Riegel hier. Das ist kein Gefängnis. Die könnten alle weg , sage ich wortlos zu ihr und schaue auf die Leute, die an uns vorbeigehen, wenn sie nur wollten . Auf einmal überkommt mich der Drang, einen von diesen grauen Menschen bei den Schultern zu packen und ihm zu sagen: Kommt alle mit uns , um sie dann im Gänsemarsch hinausführen.
Aber das kann ich nicht. Es wäre gegen die Regel, die Samjeeza uns klar und deutlich auferlegt hat. Sprecht mit niemandem.
Endlich biegen wir auf die Castro Street ab, die Hauptverkehrsstraße. Wir sind mitten in der Innenstadt von Mountain View, die Straße ist von Restaurants, Cafés und Sushibars gesäumt. Sofort geht mein Blick suchend zu einem Gebäude, das auf der Erde meine Lieblingsbuchhandlung war: Books Inc., ein Geschäft, in dem Mom und ich uns stundenlang aufhalten konnten,
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