Unendlichkeit in ihrer Hand
Leben bis dahin geschützt hatte und das zerreißen würde, wenn sie die Worte aussprach.
Bei ihren Geburten, vor vielen Jahren, da hatte sie geglaubt, kein Schmerz könnte größer sein, aber der Kummer, der ihr in diesen Tagen die Luft zum Atmen nahm, war nicht minder grausam als der Geburtsschmerz in ihrer Erinnerung. Zu wissen, dass sie leiden würden und sie ihnen kaum Trost zu bieten hatte, verursachte ihr eine peinigende Beklemmung, schnürte ihr die Brust zu. Sie träumte, dass sie hinter ihnen herging an Abgründen und tosenden Flüssen und Feuersbrünsten entlang, ohnmächtig. Sie träumte, dass ihr die Stimme versagte, als sie versuchte, sie vor den Gefahren zu warnen, vor den Schluchten, vor den wilden Tieren.
Kapitel 26
D ie Tage verstrichen. Eva zog zum Fluss hinunter, um Fische und Krebse zu sammeln. Die Blätter verblichen an den Bäumen, es roch nach feuchter Erde, und über der Landschaft lag eine spätsommerliche Schwere. Sie hockte sich ans Ufer, tauchte den Palmkorb ein und wartete, bis die Fische herbeischwammen. Dabei beobachtete sie das glitzernde, durchsichtige Wasser und den Schaum der Strömung, der sich an den felsigen Ufern sammelte. Vielleicht machte sie sich auch zu viele Sorgen. Was ist mit mir?, fragte sie sich. Sie konnte sich nicht erinnern, je so niedergeschlagen gewesen zu sein. Warum sollten sich ihre Kinder denn nicht in ihre Paarungen fügen? Sie liebten sich alle. Sie waren Geschwister. Sie würden sich weder trennen müssen noch auf ihre Liebe verzichten. Und da sie die körperliche Intimität noch nicht kannten, war der Verzicht für sie vielleicht gar nicht so schmerzhaft, wie Eva dachte. Vielleicht stellte sie sich Kains und Luluwas Schmerz nur so groß vor, weil sie ihr eigenes Verlangen für Adam kannte. Abel würde nichts gegen seine Partnerin einzuwenden haben, so viel war sicher. Und was Aklia betraf, so war ihr Kain ohnehin näher. Doch bei aller Mühe konnte sie sich einfach nicht vorstellen, dass Luluwa und Kain sich damit abfinden würden, ihren Instinkt, der sie von klein auf miteinander verband, zu überhören.
Sie vernahm ein Rascheln im trockenen Laub. Die Schlange, dachte sie. Dann hob sie die Augen. Es war Kain.
Er sprudelte über. Jedes Wort flog heraus wie ein angespitzter Kieselstein. Er warf blind damit um sich, ohne ein einziges Mal Atem zu holen. Sein Hohn, seine Leidenschaft, seine schneidende Schärfe waren etwas Neues für die Luft der Erde. Wo und auf welche Weise war Kains Speichel nur so bitter geworden?, fragte sie sich. Sie verließ das Ufer mit dem Korb und ein paar zappelnden Fischen darin. Als sie bei ihm war, stand sie aufrecht vor ihm und sah ihn mit weit geöffneten Augen an, der Herzschlag dröhnte ihr in den Ohren. Er sah aus wie versteinert. Vollkommen hart. Das Gesicht hart, die Mundwinkel herabgezogen und der Mund weit aufgerissen, als hätten all die Worte nicht genug Platz darin. Er sprach davon, zu schlagen, zu zerfetzten, zu erdrücken, zu begraben. Er warf ihr vor, ihn geboren zu haben, die Feige gegessen und das Paradies verloren zu haben, zuzulassen, dass Adam nur Abel liebte. Diesen Idioten von Abel. Nur als er Luluwa erwähnte, schwankte seine Stimme, und als er es bemerkte, hielt er kurz inne, dann schlug er sofort wieder den beleidigenden Ton an und beschrieb ohne eine Spur geschwisterlicher Milde Aklias seltsam zusammengedrängte Züge – die Eva zeit ihres Lebens genauso schön finden würde wie die Gesichter ihrer anderen Kinder. Als sie diese Anwürfe vernahm, erwachte Eva endlich aus ihrem stummen, schmerzlichen Befremden.
»Geh zur alten Höhle, Kain, und komm erst wieder heraus, wenn du bereit bist, mich um Verzeihung zu bitten!«
Hoch aufgerichtet und vor Schmerz und Wut brennend, zeigte sie mit der Hand in die benannte Richtung, dann sah sie ihn vor ihrem festen Blick einknicken. Sie hörte seine Schritte in den trockenen Blättern, als er sich umdrehte und ging, während er mit dem Stock in der Hand auf Steine, Gebüsch und anderes am Wegesrand einschlug.
Adams Beschluss und Elohims Willen hatten das innige, feine Gewebe ihrer Existenz zerrissen. Es war eine Katastrophe. Schreie, Verwünschungen, Schluchzer, Aklias verlorener Blick und Abels erschrockenes Schweigen, das war es, was Eva vorfand, als sie vom Fluss zurückkam. Adam ging rastlos auf und ab.
»Sein Zorn war genauso wie meiner, damals, als ich eigenhändig die Bärin erlegt habe. Kain hat sich auf mich gestürzt. Dann hat er sich
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