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Unendlichkeit in ihrer Hand

Unendlichkeit in ihrer Hand

Titel: Unendlichkeit in ihrer Hand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gioconda Belli
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all die kleinen und großen Dinge ihrer häuslichen Umgebung zusammengesucht hatte, waren Zweifel in ihr aufgekommen, jenen Hort ihrer Familie zu verlassen, in dessen Ecken und Ritzen die Erinnerungen ihres ganzen Lebens steckten. Überrascht hatte sie in ihren unzähligen Verstecken unter Steinen und in Felsritzen Tierzähne gefunden, durchlöcherte Flusssteine, das Skelett eines Fisches, einen Seestern, eine Phönixfeder, die getrockneten Nabelschnüre ihrer Kinder. Als sie diese Schätze entdeckte, zog noch einmal die Zeit, seit Elohim sie aus dem Garten verbannt hatte, in ihrer ganzen Länge und Breite an ihr vorüber. Es stimmte sie traurig, sich selbst so aus der Ferne zu sehen, als wäre die Frau, die all diese Schätze aufgehoben hatte, nunmehr eine Erinnerung ihrer selbst.
    Vor ihrem inneren Auge tauchten die Bilder ihrer Anfänge auf, während sie den Kindern Anweisungen gab, was mitzunehmen und was dazulassen sei, die gegerbten Felle, die bemalten Gefäße, Pfeile und Feuersteine, die dicken fruchtbaren Tonfiguren, die sie an den Tagen, als sie allein blieb und sich wie ein Meer kurz vorm Überlaufen gefühlt hatte, zum Spaß aus Lehm geformt hatte. Am liebsten, so dachte sie, würde sie dableiben. Sie hatte nämlich die Vorahnung, dass die Eva, die hier gelebt hatte, sich in gleicher Weise auflösen würde wie einst der Garten, sobald in der Höhle wieder Stille einkehrte und nur noch die Zeichnungen an den Wänden von ihrem Durchzug kündeten. So rang sie mit sich, ob sie nicht das fleißige Treiben unterbrechen und Adam vom düsteren Widerhall erzählen sollte, den die leere Höhle in ihrer Brust hervorrief. Doch die lebhafte Vorfreude der anderen hielt sie davon ab. Voller Spannung fieberten sie der neuen Bleibe entgegen und wollten endlich den selbstgebauten Graben davor überschreiten.
     
    Adam holte sie auf dem Trampelpfad ein. Er trug die Lederbeutel mit den Lanzen, den Angelhaken und Pfeilspitzen. Als er bemerkte, wie langsam und lustlos sie mit gesenktem Kopf einhertrottete, da sagte er:
    »Wir können in die alte Höhle zurück, sooft wir wollen.«
    »Aber nicht zu den alten Zeiten, Adam.«
    Wozu sie zu den alten Zeiten zurückwolle, fragte er sie ungläubig – etwa zu Einsamkeit und Verwirrung?
    »Ich weiß auch nicht«, erwiderte sie. »Vielleicht, weil wir damals jünger waren. Vielleicht, weil die Tage uns noch neu vorkamen und wir glaubten, mehr tun zu können, als uns nur dem Überleben zu widmen. Manchmal habe ich den Eindruck, dass wir nichts anderes tun.«
    Er sähe es so, dass ihre Herausforderung genau darin bestand, zu beweisen, dass sie überleben konnten, sagte er.
    Überleben wozu?, fragte sie. Was hatte es für einen Sinn, sich von den Tieren zu unterscheiden, wenn es letzten Endes nur ums Überleben ging? Sie hatte von der verbotenen Frucht gegessen, weil sie sich vorstellte, dass es noch etwas gäbe.
    Vielleicht gebe es das ja auch, und sie hätten die Aufgabe, es zu entdecken, sagte er.
    Sie habe Angst, es nie zu finden, gab sie zu bedenken.
    »Du bist traurig«, sagte Adam. »Traurigkeit ist wie ein Nebel. Man kann nichts sehen.«
     
    Sie erreichten ihr neues Heim. Eva ließ sich von der Betriebsamkeit der Kinder anstecken. Die Früchte ihrer Arbeit waren gut. Sie hatten mit Lianen dünne Stämme aneinandergebunden, damit die Brücke Halt bot, aber nicht zu schwer wurde und abends eingezogen werden konnte. Die Grube war tief genug und die Höhle geräumiger und heller als die alte. Hier würden die Tiere sie zwar auch belagern, aber unmöglich eindringen können.
     
    Es dauerte nicht lange, da hatten sie sich eingerichtet. Jeder ordnete seine Habseligkeiten. Es war lustig zuzusehen, wie sich jeder einen Platz suchte und sein Werkzeug verstaute: die mühsam bearbeiteten Steine – die allmählich immer besser wurden –, die Stöcke mit den angespitzten Enden zum Jagen, die Gerätschaften zum Schneiden und Ausweiden. Luluwas Schätze waren golden, Stroh und Weiden zum Korbflechten; Aklia sammelte Tierknochen, daraus stellte sie Angelhaken her und sogar Geräte, um die Knoten in den Schaffellen zu entwirren; Abel hatte ein ganzes Sortiment Stecken und Hirtenstäbe, und Kain besaß spezielle Stöcke, mit denen er Löcher grub, um die Samen in die Erde hineinzulegen, die er sammelte.
     
    In ihrer ersten Nacht in der neuen Höhle leuchtete ein roter Mond am Himmel. Als sich Abel als letzter zur Nachtruhe einfand, rief er: Der Himmel frisst den Mond auf! Darauf liefen sie

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