Unendlichkeit
Umsturz – bei dem die Waffen eingesetzt wurden – vor knapp acht Monaten stattfand, jedoch nicht von uneingeschränktem Erfolg gekrönt war. Was von Cuvier noch übrig ist, steht nach wie vor unter der Kontrolle des alten Regimes, obwohl dessen Anführer – Girardieu – bei den Kämpfen ums Leben kam. Die Fluter des Wahren Weges – die für den Coup verantwortliche Gruppe – kontrollieren viele der abgelegenen Siedlungen, aber ihr innerer Zusammenhalt ist offenbar nicht stark genug, möglicherweise ist es bereits zur Bildung von Splitterparteien gekommen. In der Woche seit meiner Landung haben neun Angriffe gegen Cuvier stattgefunden, und man vermutet sogar Saboteure innerhalb der Stadt: Infiltratoren des Wahren Weges, die sich in den Trümmern versteckt halten.« An dieser Stelle legte Sajaki eine Pause ein, und Volyova überlegte, ob er am Ende gar so etwas wie Sympathie für die erwähnten Infiltratoren empfand. Seinem Gesicht war allerdings nichts davon anzumerken.
»Was mich betrifft, so erteilte ich natürlich als Erstes den Befehl zur Demontage des Anzugs. So verlockend es gewesen wäre, damit den Weg nach Cuvier zurückzulegen, ich konnte das Risiko nicht eingehen. Dennoch war die Reise weniger mühsam, als ich befürchtet hatte. Am Stadtrand nahm mich eine Gruppe von Pipeline-Technikern mit, die aus dem Norden zurückkehrten. Mit ihnen gelangte ich in die Stadt. Zunächst waren sie misstrauisch, aber mit etwas Wodka konnte ich sie rasch dazu bewegen, mich in ihr Fahrzeug einsteigen zu lassen. Ich sagte, er würde in Phoenix gebrannt, der Siedlung, aus der ich angeblich kam. Sie hatten zwar von dem Ort noch nie gehört, waren aber gern bereit, mit mir darauf zu trinken.«
Volyova nickte. Der Wodka war – zusammen mit einer Tasche voller Krimskrams – kurz vor Sajakis Abreise an Bord des Schiffes hergestellt worden.
»Die Bewohner leben zumeist unter der Erde, in Katakomben, die vor fünfzig oder sechzig Jahren angelegt wurden. Natürlich ist die Luft halbwegs atembar, aber ich kann Ihnen versichern, dass das Atmen kein Vergnügen ist und man sich ständig am Rande des Sauerstoffmangels bewegt. Es hat mich beträchtliche Anstrengungen gekostet, auf diesen Felsen zu kommen.«
Volyova lächelte. Wenn Sajaki so etwas zugab, musste der Aufstieg zur Mesa die reine Folter gewesen sein.
»Angeblich verfügt der Wahre Weg zur Erleichterung der Atmung über biotechnische Verfahren vom Mars«, fuhr er fort, »aber Beweise dafür habe ich nicht gesehen. Meine Pipeline-Freunde halfen mir, ein Zimmer in einer Herberge zu finden, die von Bergleuten von außerhalb frequentiert wird, was natürlich genau zu meiner Geschichte passte. Ich würde die Unterkunft nicht als besonders hygienisch bezeichnen, aber für meine Zwecke war sie ausreichend, denn ich wollte natürlich Informationen sammeln. Die Ergebnisse meiner Nachforschungen«, fügte er hinzu, »waren allerdings oft widersprüchlich und bestenfalls vage.«
Sajaki hatte die halbe Drehung von Horizont zu Horizont fast abgeschlossen. Die Sonne stand jetzt hinter seiner rechten Schulter, und dadurch war sein Gesicht immer schwerer zu erkennen. Das Schiff brauchte freilich nur auf Infrarot zu schalten, um Sajakis Rede auch weiterhin an den Veränderungen seiner Gesichtsdurchblutung ablesen zu können.
»Augenzeugen berichten, dass Sylveste und seine Frau dem Attentat entgingen, bei dem Girardieu getötet wurde, aber seither nicht mehr gesehen wurden. Das war vor acht Monaten. Die Aussagen der Leute, mit denen ich gesprochen, und die geheimen Datenquellen, die ich angezapft habe, lassen nur einen Schluss zu. Sylveste wird wieder gefangen gehalten, aber diesmal außerhalb der Stadt und wahrscheinlich von einer Zelle des Wahren Weges.«
Jetzt war Volyova ganz Ohr. Alles führte auf einen ganz bestimmten Punkt zu; die Entwicklung war von vornherein unvermeidlich gewesen. Nur war die Unvermeidlichkeit in diesem Fall mehr in Sajaki und in dem begründet, was sie über ihn wusste, als in dem Mann, nach dem er suchte.
»Mit den offiziellen Stellen – wo immer die auch sein mögen – zu verhandeln, wäre sinnlos«, sagte Sajaki. »Ich bezweifle, dass sie uns Sylveste ausliefern könnten, selbst wenn sie wollten, wovon natürlich nicht auszugehen ist. Damit bleibt uns leider nur eine Möglichkeit.«
Volyova hob den Kopf. Jetzt kam es.
»Wir müssen erreichen, dass es im Interesse der ganzen Kolonie liegt, uns Sylveste zu überlassen.« Wieder lächelte Sajaki.
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