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Unendlichkeit

Unendlichkeit

Titel: Unendlichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alastair Reynolds
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Obelisken erreichte. Sluka und einer der anderen Archäologen hatten ihn im Stich gelassen, aber der einzige noch verbliebene Arbeiter hatte – mit Hilfe des Servomaten – die ineinander verschachtelten Stein-Sarkophage Schicht für Schicht abgetragen und den massiven Obsidian-Block fast einen Meter weit freigelegt. In die Seitenwand waren mit großer Kunstfertigkeit amarantinische Schriftzeichen eingraviert. Das meiste war Text: Reihen von Ideogrammen. Die Archäologen hatten die Sprache der Amarantin in ihren Grundzügen enträtselt, ohne dass ihnen ein zweiter Stein von Rosette dabei geholfen hätte. Die Amarantin waren die achte ausgestorbene Fremdkultur, die von der Menschheit im Umkreis von fünfzig Lichtjahren von der Erde entdeckt worden waren, wobei nichts darauf hinwies, dass eine dieser acht Spezies je mit einer der anderen in Berührung gekommen wäre. Auch von den Musterschiebern und den Schleierwebern war keine Unterstützung zu erwarten: beide Arten schienen nicht einmal Ansätze einer Schrift entwickelt zu haben. Das wusste niemand besser als Sylveste, der mit den Schiebern wie mit den Webern – oder zumindest mit deren Technik – in Kontakt gekommen war.
    Stattdessen war die Sprache der Amarantin von Computern entschlüsselt worden. Es hatte dreißig Jahre gedauert – und den Vergleich von Millionen von Fundstücken erfordert –, aber dann stand endlich ein in sich stimmiges Modell, mit dem man die Aussage der meisten Inschriften bestimmen konnte. Von Vorteil war dabei, dass die Amarantin wenigstens zum Ende ihres Daseins nur eine Sprache gekannt hatten, die sich zudem nur langsam veränderte. So konnte man mit ein und demselben Modell Inschriften entziffern, die im Abstand von Zehntausenden von Jahren entstanden waren. Bedeutungsnuancen waren natürlich ein ganz anderer Fall. Hier waren das menschliche Einfühlungsvermögen – und theoretische Grundlagen – gefragt.
    Allerdings gab es im menschlichen Erfahrungsbereich nichts, was mit den Schriften der Amarantin vergleichbar gewesen wäre. Alle Texte waren stereoskopisch – verschlungene Linien, die im visuellen Kortex des Lesers verschmolzen werden mussten. Die Amarantin stammten von vogelähnlichen Wesen ab – einer Art fliegender Dinosaurier mit der Intelligenz von Lemuren. Auf irgendeiner Stufe ihrer Entwicklung hatten die Augen zu beiden Seiten des Schädels gesessen, was zu einer starken Zweiteilung der Gehirntätigkeit geführt hatte, bei dem sich jede Gehirnhälfte ihr eigenes, mentales Modell der Welt aufbaute. Später waren sie Jäger geworden und hatten begonnen, mit beiden Augen zu sehen, aber die mentalen Vernetzungen waren noch immer von dieser früheren Entwicklungsphase geprägt. Die meisten Amarantin-Funde spiegelten diese geistige Dualität mit deutlicher Symmetrie um die vertikale Achse wider.
    Der Obelisk war keine Ausnahme.
    Sylveste brauchte anders als seine Mitarbeiter keine Spezialbrille, um die Schriftzeichen lesen zu können; er brauchte nur einen von Calvins sinnvolleren Algorithmen einzusetzen, um die Verschmelzung der stereoskopischen Bilder mit bloßem Auge durchführen zu können. Dennoch blieb der Akt des Lesens umständlich und erforderte angestrengte Konzentration.
    »Ich brauche hier mehr Licht«, sagte er. Der Student nahm einen der tragbaren Scheinwerfer vom Pfosten und hielt ihn über die Seitenwand des Obelisken. Irgendwo hoch oben wetterleuchtete es: zwischen den Staubschichten im Sturm entluden sich elektrische Spannungen.
    »Können Sie es lesen, Sir?«
    »Ich bemühe mich«, sagte Sylveste. »Es ist nicht ganz einfach. Schon gar nicht, wenn Sie das Licht nicht ruhig halten.«
    »Verzeihung, Sir. Ich tue, was ich kann. Aber der Wind wird immer stärker.«
    Er hatte Recht; selbst in den Tiefen des Schachts bildeten sich bereits Wirbel. Wenn es noch unruhiger wurde, würde sich der Staub verdichten, bis die Luft zu einer undurchsichtigen, grauen Masse wurde. Unter solchen Bedingungen konnte man nicht lange arbeiten.
    »Ich entschuldige mich«, sagte Sylveste. »Ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihre Hilfe.« Noch nicht zufrieden mit dieser Aussage, fügte er hinzu: »Und ich bin froh, dass Sie bei mir geblieben sind und nicht bei Sluka.«
    »Die Entscheidung war nicht schwer, Sir. Nicht jeder von uns steht Ihren Ideen ablehnend gegenüber.«
    Sylveste schaute vom Obelisken auf. »Allen meinen Ideen?«
    »Wir finden zumindest, dass sie untersucht werden sollten. Immerhin liegt es im Interesse der Kolonie

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