Unendlichkeit
zu nahe gekommen wären. Volyova seufzte. Sie näherte sich dem kritischen Punkt ihres Geständnisses. »Nagorny war immer etwas labil, Captain. Ein Borderline-Psychopath war für mich in vieler Hinsicht nützlicher als ein geistig völlig normaler Mensch – jedenfalls dachte ich das damals. Aber ich hatte Nagornys Psychose unterschätzt.«
»Hat sich sein Zustand verschlimmert?«
»Bald nachdem ich ihm die Implantate eingesetzt und ihm erstmals erlaubt hatte, die Verbindung zum Leitstand herzustellen, fing er an, über Albträume zu klagen. Schwere Albträume.«
»Der arme Junge ist zu bedauern.«
Volyova verstand. Verglichen mit dem, was der Captain durchgemacht hatte – und immer noch durchmachte –, mussten ihm die Albträume der meisten Menschen wie sanfte Phantasmagorien vorkommen. Man konnte darüber streiten, ob er Schmerzen empfand oder nicht, aber was bedeuteten schon Schmerzen, wenn man wusste, dass man bei lebendigem Leibe von etwas unbeschreiblich Fremdartigem aufgefressen – und zugleich verwandelt wurde?
»Ich habe keine Ahnung, wovon die Albträume handelten«, sagte Volyova. »Ich weiß nur, dass sie für Nagorny – in dessen Kopf ohnehin schon mehr Gespenster ihr Unwesen trieben, als die meisten von uns verkraftet hätten – zu viel waren.«
»Und was haben Sie dagegen getan?«
»Ich habe alles ausgetauscht – das gesamte Interface-System für den Leitstand und sogar die Implantate in seinem Kopf. Aber es half nichts. Die Albträume blieben.«
»Sie sind sicher, dass sie mit dem Leitstand zu tun hatten?«
»Ich wollte es zunächst nicht wahrhaben, aber es gab eine klare Übereinstimmung zu den Perioden im Kampfsitz.« Sie zündete sich die nächste Zigarette an. Die Glut an der Spitze war das Einzige, was in der Umgebung des Captain Wärme verbreitete. Die Entdeckung einer neuen Schachtel Zigaretten war einer der wenigen Glücksmomente in den letzten Wochen gewesen. »Also habe ich das System noch einmal umgestellt, aber auch das half nichts. Es ging ihm höchstens noch schlechter.« Sie hielt inne. »Daraufhin habe ich Sajaki von meinen Problemen erzählt.«
»Und wie hat Sajaki reagiert?«
»Ich sollte die Experimente zumindest bis zu unserer Ankunft vor Yellowstone unterbrechen. Nagorny sollte ein paar Jahre im Kälteschlaf verbringen, vielleicht würde ihn das von seiner Psychose heilen. Ich dürfte gerne weiter am Leitstand herumbasteln, aber ohne Nagorny noch einmal auf den Sitz zu lassen.«
»Klingt sehr vernünftig. Aber Sie haben den Rat natürlich nicht befolgt.«
Volyova nickte. Es war absurd, aber sie war erleichtert, dass der Captain ihr Verbrechen erraten hatte, ohne dass sie ihm selbst davon erzählen musste.
»Ich bin ein Jahr vor den anderen aufgewacht«, sagte sie. »Ich wollte die Zeit nützen, um das System zu überwachen und mich um Sie zu kümmern. Damit war ich einige Monate lang auch beschäftigt. Dann beschloss ich, Nagorny zu wecken.«
»Für weitere Experimente?«
»Ja. Bis gestern.« Sie zog gierig an ihrer Zigarette.
»Das ist wie beim Zahnarzt, Ilia. Was ist gestern passiert?«
»Nagorny ist verschwunden.« Jetzt war es heraus. »Er hatte einen besonders schlimmen Anfall und ging auf mich los. Ich setzte mich zur Wehr, aber er konnte entkommen. Er muss irgendwo auf dem Schiff sein. Ich habe keine Ahnung, wo.«
Der Captain überlegte lange. Sie konnte sich vorstellen, was er dachte. Das Schiff war groß, und es gab viele Bereiche, die nicht überwacht werden konnten, weil die Sensoren ausgefallen waren. Wenn sich jemand gezielt versteckte, wäre er noch schwerer zu finden.
»Sie werden ihn suchen müssen«, sagte der Captain endlich. »Wenn Sajaki und die anderen aufwachen, darf er nicht mehr frei herumlaufen.«
»Und wenn ich ihn finde?«
»Dann müssen Sie ihn wahrscheinlich töten. Wenn Sie sauber arbeiten, können Sie die Leiche in den Kälteschlaftank zurücklegen und eine Panne arrangieren.«
»Ich soll also einen Unfall vortäuschen?«
»Ja.« Der Teil des Gesichts, den sie durch das Helmfenster sehen konnte, war wie immer völlig ausdruckslos. Die Züge des Captains waren starr wie bei einer Statue.
Der Rat war gut – sie hätte auch selbst darauf kommen können, aber das Problem hatte sie völlig in Anspruch genommen. Bis jetzt war sie jeder Konfrontation mit Nagorny aus dem Weg gegangen, aus Angst, in eine Situation zu kommen, in der sie ihn töten musste. Das hatte sie für untragbar gehalten – aber ob eine Lösung tragbar
Weitere Kostenlose Bücher