Unendlichkeit
Musik steigerte sich zu einem Höhepunkt und plätscherte dann beruhigend im Hintergrund weiter. Die Beleuchtung veränderte sich, die Stimmen verstummten.
Gemeinsam traten sie ins helle Licht. Das Dröhnen der Orgelbässe umfing sie. Ein gewundener Pfad, zur Feier des Tages mit Teppichen belegt, führte zum Tempel. Zu beiden Seiten standen Glockenbäume unter Schutzhauben aus klarem Plastik. Die zarten Baumskulpturen hatten viele reich verzweigte Äste, an denen bunte Parabolspiegelchen hingen. In unregelmäßigen Abständen klickte es, und die Bäume veränderten, offenbar von einem Millionen Jahre alten Uhrwerk im Sockel gesteuert, ihre Gestalt. Bislang hielt man sie für Elemente eines stadtweiten Telegrafensystems.
Das Orgelspiel wurde lauter, als sie den Tempel betraten. Die eiförmige Kuppel war durchwirkt mit kunstvoll gestalteten Blütenblättern aus Buntglas, die das Zerstörungswerk der Zeit und der Schwerkraft wie durch ein Wunder unversehrt überstanden hatten. Die Deckenscheinwerfer tauchten alles in ein sanftes rosarotes Licht. Die Mitte des riesigen Raumes nahm breit und ausladend wie der Stamm eines Mammutbaums das Fundament des Turmes ein, der das Gebäude überragte. Auf einer Seite der Säule waren fächerförmig zur Außenwand hin Sitzgelegenheiten für hundert Würdenträger aus Resurgams Führungsschicht aufgestellt worden; sie fanden mühelos Platz, obwohl das Gebäude auf ein Viertel der Originalgröße reduziert war. Sylveste ließ den Blick über die Reihen der Zuschauer schweifen. Etwa ein Drittel war ihm bekannt. Vielleicht ein Zehntel hatte vor dem Umsturz zu seinen Verbündeten gezählt. Die meisten trugen dicke, pelzgefütterte Mäntel. Er entdeckte Janequin, inzwischen ein ehrwürdiger Greis mit weißem Spitzbart und langem Silberhaar, das wasserfallgleich von seinem oben kahlen Schädel herabströmte. Die Ähnlichkeit mit einem Affen war noch größer geworden. Man hatte in einem Dutzend Bambuskäfigen einige seiner Pfauen in den Tempel gebracht und sie dort freigelassen. Sylveste musste zugeben, dass sie mittlerweile täuschend echt aussahen. Selbst die wippende Federkrone und die türkis schillernden Augen im Gefieder fehlten nicht. Janequin hatte sie durch vorsichtige Manipulation von Homeo-box-Genen aus Hühnern entwickelt. Viele der Zuschauer hatten die Vögel noch nie zuvor gesehen und klatschten Beifall. Janequin wurde so rot wie blutiger Schnee und wäre am liebsten in seinem Brokatmantel versunken.
Girardieu und Sylveste traten vor einen stabilen Tisch im Blickfeld der Zuschauer. Der Tisch war uralt: die Platte mit dem eingelegten Adler und den lateinischen Inschriften stammte noch von den ersten Amerikano-Siedlern auf Yellowstone. Die Ecken waren abgebrochen. Auf dem Tisch stand eine lackierte Mahagonischatulle mit zierlichen Goldschließen.
Dahinter stand eine ernste Frau in einem strahlend weißen Umhang mit einer kunstvollen Schnalle in Form eines Doppelsiegels, das sich aus dem Stadtwappen von Resurgam City bzw. dem Regierungswappen der Fluter und dem Emblem der Meistermischer zusammensetzte: zwei von DNA-Strängen umschlungenen Händen. Die Frau war allerdings keine echte Meistermischerin. Die Meistermischer waren eine elitäre Stoner-Gilde von Biotechnikern und Genetikern. Niemand aus ihrem innersten Kreis hatte an der Expedition nach Resurgam teilgenommen. Nur ihr Wappen war mitgekommen und zum Markenzeichen aller Spezialisten in den Biowissenschaften Genmanipulation, Chirurgie oder Medizin geworden.
Die Frau lächelte nicht. Im bunten Licht, das durch die Glasscheiben fiel, wirkte ihr Gesicht fahl. Das Haar war zu einem Knoten geschlungen, in dem zwei Injektionsspritzen steckten.
Die Musik verstummte.
»Ich bin Ordinator Massinger«, rief sie mit lauter Stimme durch den Saal. »Der Expeditionsrat von Resurgam hat mich ermächtigt, Personen aus dieser Siedlung miteinander zu vermählen, sofern eine solche Verbindung die genetische Gesundheit der Kolonie nicht gefährdet.«
Sie öffnete die Mahagonischatulle. Zuoberst lag ein ledergebundenes Buch von der Größe einer Bibel. Sie nahm es heraus, legte es auf den Tisch und schlug es auf. Das Leder knarrte hörbar. Die offenen Seiten waren mattgrau wie nasser Schiefer und von mikroskopisch kleinen glitzernden Maschinen durchsetzt.
»Jeder der Herren legt eine Hand auf die Seite, die ihm am nächsten liegt.«
Sie gehorchten. Das Buch erstrahlte in fluoreszierendem Licht und speicherte die Handabdrücke, um
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