Unerwartet (German Edition)
kann sich kaum aufrecht halten und hat Schüttelfrost.“
Paul lässt mich los und nimmt seine Tasche, die er beim Reinkommen auf dem Boden abgestellt hat.
„Darüber reden wir noch“, sagt er streng. „Aber jetzt schaue ich mir erst mal deinen Bruder an.“
Mit professioneller Miene sitzt Paul auf dem Wohnzimmertisch vor Ben, der schlapp auf der Couch hängt, und stellt ihm einige Fragen zu seinem Befinden. Er tastet seine Lymphknoten ab, schaut in seinen Rachen und die Ohren. Als er seine Stirnhöhlen abklopft, wimmert Ben vor Schmerzen. Zum Schluss tastet er noch seinen Bauch ab und verweilt dort länger, als für meine angeschlagenen Nerven gut ist.
„Ich geb dir gleich noch etwas für die Halsschmerzen und gegen das Fieber. Morgen früh bräuchte ich noch eine Blutprobe von dir“, sagt er zu Ben, der ein wenig ängstlich dreinschaut.
„Was hab ich denn?“, fragt er.
„Auf jeden Fall tüchtig die Mandeln entzündet. Auch wenn dir das Abklopfen wehgetan hat, schätze ich, dass deine Stirnhöhlen frei sind und du einfach nur Kopfschmerzen hast. Ich rede mal eben mit deiner Schwester.“
Er gibt Ben die Hand, der sichtlich davon beeindruckt ist, wie ein Erwachsener behandelt zu werden.
„Was ist los?“, frage ich, als wir uns in der Küche gegenüberstehen.
„Ich bin mir nicht sicher, dafür brauche ich erst eine Blutprobe. Aber da das im Moment im Umlauf unter den Jugendlichen ist, würde ich stark darauf tippen, dass er Pfeiffersches Drüsenfieber hat. So ziemlich alles spricht dafür.“
„Was ist mit seinem Bauch?“
„Du bist ein guter Beobachter, Mamabär“, neckt er mich. „Seine Milz ist vergrößert, deswegen auch meine Vermutung. Ansonsten würde ich es als Tonsillitis einstufen.“
„Jesus, Paul. Auf Deutsch bitte.“
Ich bin kurz davor, wieder das Nägelkauen anzufangen.
„Mandelentzündung, Engel.“
Paul verschränkt die Arme vor der Brust, obwohl er so aussieht, als würde er mich lieber an sich ziehen.
„Und jetzt?“
„Jetzt müssen wir vor allem erst mal sein Fieber runter bekommen. Du kannst ihm Paracetamol im Wechsel mit Ibuprofen geben. Alle vier Stunden. Hast du das hier?“
„Leider, nein. Ach, Scheiße. Ben war nie ernsthaft krank. Nicht so. Das kenne ich nicht von ihm. Irgendwie habe ich total versagt, zu erkennen, wie schlecht es ihm geht.“
Paul kommt einen Schritt auf mich zu und legt mir die Hände auf die Schultern.
„Hast du nicht, Katharina. Du tust, was du kannst. Und das ist eine Menge. Ich habe noch Paracetamol in meiner Tasche und auch ein betäubendes Spray für den Hals, damit er wenigstens vernünftig trinken kann. Normalerweise mache ich das nicht, aber ich würde ihm gerne ein Antibiotikum geben, falls es doch kein Pfeiffersches Drüsenfieber ist.“
„Hast du das auch in deinem Koffer?“
„Nein, aber ich schreibe ein Rezept und dann gehe ich es noch holen. Jetzt versorgen wir ihn erst mal mit den anderen Medikamenten. Anschließend fahre ich zur Apotheke und bringe uns auf dem Rückweg etwas zu essen mit.“
Ich will gerade den Mund öffnen, um ihm zu widersprechen, als er mir einen Finger auf die Lippen legt.
„Lass dir helfen. Nur dieses eine Mal.“
Nach einer Dosis Paracetamol und ein paar Löffeln Brühe schläft Ben mit dem Kopf auf meinem Schoß ein. Sein Fieber ist nicht wesentlich gesunken, aber er fühlt sich etwas besser.
„Wenn er in einer Stunde immer noch so glüht, dann musst du ihm Wadenwickel machen“, flüstert Paul aus dem Sessel. Auf dem Fernseher läuft leise irgendeine Krimiserie, der wir aber beide nicht besonders viel Aufmerksamkeit schenken.
„Wie mache ich das? So etwas musste ich bisher noch nie.“
„Die nassen Tücher dürfen nicht eiskalt sein, nur lauwarm, sonst erreichst du das Gegenteil und das Fieber schießt noch höher.“
„Danke, Paul. Jetzt bin ich gleich beruhigter. Als ob sein Fieber nicht schon hoch genug wäre.“
Paul sieht mich mit einer hochgezogenen Augenbraue an.
„Statt mich anzuzicken, könntest du mich auch einfach fragen, ob ich heute Nacht hierbleibe und dir helfe.“
„Das wäre nicht richtig“, sage ich kleinlaut und hebe Bens heißen Kopf von meinem Oberschenkel. Noch im Schlaf seufzt er erleichtert, als ich ihm stattdessen ein kühles Kissen unter den Kopf schiebe.
„Sagt wer?“ Herausfordernd sieht er mich an.
„Ich.“
„Warum?“
„Weil ich keine Schlampe bin?“
Dieser Begriff geht mir einfach nicht aus dem Kopf.
„Das bist du
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