Unerwartet (German Edition)
ich weiß nicht, ob ich das stemmen kann. Ben war noch nie im Urlaub, da das immer meine letzte Sorge war. Vorher waren andere Rechnungen zu bezahlen, und das hat sich bis jetzt noch nicht geändert.
Paul bemerkt meine Wortknappheit.
„Was ist los, Katharina. Red mit mir. Ich sehe, dass dich etwas beschäftigt, aber ich weiß wirklich nicht, was dir gerade durch den Kopf geht.“
Er nimmt meine Hände und zwingt mich, ihn anzusehen.
„Es ist nichts. Ich muss nur sehen, ob ich das mit dem Coffeeshop geregelt bekomme. Ben war noch nie im Urlaub und wäre auf jeden Fall begeistert.“
„Noch nie?“
Ja, ich kann es auch nicht fassen, ist aber leider so.
„Abgesehen von der letzten Klassenfahrt, noch nie. Meine Mutter war dafür zu krank.“
Es gefällt mir nicht, dass wir jetzt über so etwas reden. Ich wollte einen netten Abend mit ihm verbringen.
Die Küche wird von einem Blitz erhellt, auf den gleich ein heftiger Donner folgt. Erschrocken zucke ich zusammen.
„Hast du Angst?“ Paul streichelt mit dem Daumen über meinen Handrücken und lächelt mich liebevoll an.
„Nein, ich bin nur schreckhaft. Hat Jakob dir von meinen Eltern erzählt?“, frage ich.
Paul nickt.
„Hat er. Aber du kannst trotzdem mit mir darüber reden, wenn du es willst.“
„Ein anderes Mal. Nicht heute. Erzähl mir lieber von deinen Eltern. Jakob hat schon recht, ich weiß gar nichts über dich.“
Paul steht auf und streckt seine Hand aus.
„Wir reden im Wohnzimmer weiter. Da ist es gemütlicher und ich kann dich festhalten.“
„Hast du Geschwister?“, frage ich. Paul setzt sich neben mich und legt meine Beine über seine Oberschenkel.
„Ich hatte eine Schwester. Sie ist aber mit elf Jahren gestorben.“
Mit einem Lächeln zeigt er mir, dass es in Ordnung ist.
„Darf ich fragen, was passiert ist?“
„Leukämie.“
Er sagt nichts weiter und sieht mich nur an. Ich will unter seinem Blick nicht zusammenbrechen, doch ich kann die aufsteigenden Tränen nicht unterdrücken. Erst kann ich es mir nicht erklären, doch als Paul mich einfach nur an seine Schulter zieht und auf die Schläfe küsst, wird mir etwas bewusst. Er ist die Person, die verstehen kann, was ich durchgemacht habe. Jakob ist verständnisvoll, doch er war nie in dieser Situation.
„Wie alt warst du?“ Ich wische mir die Tränen aus den Augenwinkeln und zwinge mich, die Wasserwerke zu stoppen.
„Ich war sechzehn. Sie hat zwei Jahre lang gekämpft, doch im Prinzip hatte sie von Anfang an keine Chance.“
„Bist du deswegen Kinderarzt geworden?“
Ich sehe zu ihm auf und bin erschrocken über die Emotionen in seinen Augen.
„Es hat damit zu tun, ja. Aber nicht aus den Gründen, die du dir vielleicht vorstellst. Heilungsmöglichkeiten für Krebs zu finden, ist komplett außerhalb meines Kompetenzbereichs. Ich hatte nie den Drang, in die Forschung zu gehen. Es hat mich nur so verrückt gemacht, wie kalt manche Kollegen, die sich Kinderärzte nennen, mit meiner Schwester umgegangen sind. Natürlich muss man als Arzt eine gewisse Distanz wahren, sonst geht man kaputt. Doch sie ist oft wie ein Stück Vieh behandelt worden. Ich konnte das nicht ertragen und irgendwie hat es sich festgesetzt.“
„Also wolltest du ein besserer Arzt für die Kinder sein.“
„Naja, ich bilde mir ein, dass ich das bin.“
Ein weiterer Donner erschüttert das ganze Haus. Wir sitzen direkt vor der offenen Balkontür und genießen die kühle Luft, die von draußen rein strömt.
„Ich bin mir ziemlich sicher, dass du das bist.“
„Schick Ben zu mir, dann kann er es dir sagen.“
„Das ist der Plan, Paul. Hast du eigentlich ein gutes Verhältnis zu deinen Eltern?“
„Wenn ich sie zu Gesicht bekomme, dann ja. Die beiden sind eigentlich ständig irgendwo auf Reisen, seitdem mein Vater in Pension ist.“
„Aber ihr versteht euch?“
„Wir verstehen uns“, sagt Paul. „Meine Mutter würde heute noch meine Wäsche machen, wenn ich sie lassen würde. Zum Glück weiß mein Vater sie zu unterhalten. Jakobs Mutter ist genau so und noch schlimmer. Aber sie hat wenigstens zwei Enkelkinder, womit sie sich beschäftigen kann. Hast du sie schon kennengelernt?“
„Nein, noch nicht.“
Ich reiße mich auch nicht darum. Normale Familien verunsichern mich. Irgendwie komme ich mir immer fehl am Platz vor.
Der nächste Donner ist so laut, dass ich fast in Pauls Arme springe.
„Der ist irgendwo eingeschlagen“, stellt er fest.
Erstaunt sieht er zu, wie ich
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