Unerwünscht: Drei Brüder aus dem Iran erzählen ihre deutsche Geschichte
Seite der Mauer in ihren Chor einstimmten. Einige gingen sogar zur Mauer und versuchten mithilfe einer Räuberleiter auf die andere Seite zu gelangen. Der Schuldirektor, der wegen des Aufruhrs auf den Hof gekommen war, wurde nun selbst aktiv, zerrte uns herunter und drohte allen, die das Schulgelände verließen, sie von den herbeigerufenen Polizisten festnehmen zu lassen. In diesem Tumult sah ich plötzlich den Kopf eines Jungen, der von der anderen Seite kurz über die Mauer spähte, dann die Ziegelsteine hochkletterte, mit gen Himmel gereckter Faust posierte und dabei auf uns hinunterschaute. Seine Augen strahlten vor Entschlossenheit und Tatendrang. Der Schulleiter beschimpfte ihn natürlich, aber wir jubelten ihm zu. Unser Freudentaumel steigerte sich schließlich ins wilde Skandieren nur einer Parole. Die Fäuste in die Höhe gereckt, riefen wir aus vollem Hals: › Marg bar Schah, Marg bar Schah! ‹ Währenddessen läutete die Schulglocke und rief zum Unterricht auf. Doch das interessierte nur noch wenige: Unsere Schule hatte sich in eine Demonstration verwandelt.
Plötzlich gab es einen Knall. Der Junge auf der Mauer kam ins Wanken, fiel von der Anhöhe auf unsere Seite herunter und blieb mit geöffneten Augen auf dem Boden liegen. Sein Arm ruhte gestreckt, als stünde er noch demonstrierend auf der Mauer. Eine Blutlache begann seinen Körper zu umgeben und überdeckte den heißen Teerboden. Für einen Moment hörte ich meinen eigenen Herzschlag, so ruhig wurde es auf dem Schulhof. Der Blick des Jungen war erstarrt und leer. Die Entschlossenheit in seinen Augen war ausgelöscht. Derselbe Junge, der noch kurz zuvor mit geballter Faust auf der Mauer gestanden hatte, war tot.«
Mojtaba richtete sich, noch immer auf der Platte kniend, auf: »Du hast den Jungen wirklich sterben gesehen? Wieso haben die ihn erschossen?« Ich sah, wie Madars Augen anfingen, wie zwei große Perlen zu glänzen, und hatte selbst Mühe, meine Tränen zurückzuhalten. Milad schmiegte sich an Madar und kroch unter ihren Arm.
»Der Junge, dessen Gesicht ich niemals vergessen werde, war erst sechzehn Jahre alt. Er hatte sich für Veränderungen im Land eingesetzt und mit seinem Leben dafür gezahlt. Er war das erste Opfer, das die junge Revolution auf der Straße gefordert hatte. Und sein Mörder war der Schah.
Es war merkwürdig, aber von da an hatte ich keine Angst mehr. An jenem Tag tränkten wir unsere Hände in dem Blut, das den Jungen umgab, rissen die Tore auf und verließen demonstrierend die Schule. Mit gehobenen Handflächen führten wir den blutigen Beweis dafür, wie der Schah regierte. Nun verlangten wir von ihm den gebührenden Zoll – nämlich seinen Sturz.
Kurz nach diesem Ereignis traten Chaleh Maryam und ich den Volksmudschaheddin bei, die ich durch Zahra Chanum bereits kannte. Ihr Sohn, Mostafa, war selbst seit Langem bei dieser Gruppe aktiv. Er studierte Recht und gehörte zu den Studenten, die beim Aufstand gegen den Schah von Beginn an eine wichtige Rolle gespielt hatten. Mostafa war ein besonderer Mensch, klug, sehr hilfsbereit und bei allen beliebt. Auch sein Äußeres machte ihn unübersehbar: Er lief mit zerrissenen Jeans und Sportschuhen herum, die er an der Ferse nach innen wandte. Außerdem trug er karierte Hemden, deren Ärmel er hochkrempelte. Seit ich mich erinnern kann, hielt er sein tiefschwarzes Haar stets kurz.
Für die Mudschaheddin wurden eure Tante und ich an den Schulen aktiv. Wir verteilten heimlich Flugblätter, indem wir sie in den Pausen in die Klassenräume legten oder sie unauffällig auf dem Pausenhof zerstreuten. Bald war ich auch dafür zuständig, das Material von den Druckereien abzuholen und es zu den anderen Aktivisten zu bringen. Wenn ich die geheimen Orte aufsuchte, trug ich immer einen Tschador, da man mich unter dem Schleier kaum erkannte und ich die Pakete so am besten verstecken konnte.
In den kommenden Wochen nahmen die Demonstrationen zu. Doch der Schah dachte nicht ans Abdanken und antwortete weiterhin mit Gewalt. Er führte Ausgangssperren ein und befahl, mit Hubschraubern auf die Menschen zu schießen. Aber es gab für uns kein Zurück mehr. Es herrschte Einigkeit darüber, dass der Schah abtreten musste, und jeder trug seinen Teil dazu bei: Trotz des Verbots, nachts die Häuser zu verlassen, brachten wir unseren Unmut auf die Straße. Und diejenigen, die nicht demonstrierten, versorgten uns nach Sonnenuntergang mit Tee und Decken.
Das überwältigende Verlangen nach
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