Unerwünscht: Drei Brüder aus dem Iran erzählen ihre deutsche Geschichte
hüpfte ich die vielen Treppen hinunter, um schnell vom dritten Stock zur Pausenhalle zu gelangen, wo Milad auf mich wartete – mit einem wichtigen Paket.
Seit etwa drei Jahren besuchten wir alle das Hannah-Arendt-Gymnasium in Lengerich. Drei Sadinams in einer Jahrgangsstufe. Madar hatte wieder die Initiative ergriffen und dafür gesorgt, dass wir nach der sechsten Klasse auf das Gymnasium kamen. Ihre Freunde hatten geraten, auch dieses Mal nicht zu lange mit dem Wechsel von der Realschule zu warten. Milad war schon seit der fünften Klasse hier und hatte sich zum regelrechten Musterschüler entwickelt. Auf der neuen Schule kamen Mojtaba und ich wieder in unterschiedliche Klassen, aber die Konflikte der alten Tage – als es noch eine Carina gab – waren passé. Wir beide hatten erkannt, dass uns nichts so einfach auseinanderbringen konnte, und gingen mit der Situation um einiges selbstbewusster um. Außerdem unternahmen wir in der restlichen Zeit sehr viel miteinander: Wir spielten zusammen Fußball im Verein, hatten eine Band, gemeinsame Wahlfächer in der Schule und dasselbe Grüppchen während der Pausen. Durch Milads Hilfe erreichten wir auch schneller den Anschluss im Unterricht. Er hatte sich an die höheren Anforderungen auf dem Gymnasium gewöhnt und griff uns vor allem in Mathe und Physik unter die Arme. Für die restlichen Fächer und andere Probleme gab es die große Sadiversammlung bei uns zu Hause.
Auf den Fluren wurde eine Tür nach der anderen aufgerissen. Heraus strömten tobende Schüler, die sich aufführten wie Inhaftierte, die gerade die Freiheit erlangt hatten. Ich schlängelte mich durch die Menschentraube, die sich die Treppe zum Erdgeschoss hinunterwälzte und in der langgezogenen Pausenhalle zerstreute. Am Ende des Geländers entdeckte ich Milad, der suchend nach oben blickte. Als ich ihn endlich erreichte, nahm er mich geheimnisvoll zur Seite, zog eine Papiertüte aus seiner Jackentasche heraus und streckte sie mir entgegen. »Gutes Zeug«, flüsterte er mir mit einem verschmitzten Grinsen ins Ohr.
Ich nahm das Paket an mich, klopfte ihm auf die Schulter und verabschiedete mich: »Gut gemacht, Kumpel. Wir sehen uns in der zweiten großen Pause.« Ich eilte los, um meinen Auftrag zu erfüllen. Nachdem Milad mir die Vorlage der Flugblätter und Plakate zugesteckt hatte, war ich dafür zuständig, die Sachen im Raum der Schülervertretung auszudrucken. Ich war nämlich seit Beginn des Jahres einer von drei Schülersprechern und hatte somit Zugang zu einem Drucker der Schule. Dass ich mich überhaupt zur Wahl gestellt hatte, hing auch mit unseren Erfahrungen als Flüchtlinge zusammen. Seit wir unsere Wohnung in Teheran verlassen hatten, waren wir nie mehr wirklich in der Lage gewesen, über unser Leben selbst zu bestimmen. Wir waren Gäste, Asylsuchende, Antragsteller. Andere bestimmten über uns, ohne dass sie auch nur wussten, wer wir genau waren und was wir wollten. Oft hatte ich das Gefühl, ich säße in einer dahinrasenden Kutsche, deren Ziel ich nicht kannte und deren Zügel ich nicht lenken durfte. Ich sehnte mich danach, endlich wieder selbst zu entscheiden, mich einzubringen und Dinge zu verändern. Ich glaubte, dass ich als Schulsprecher die Chance dazu bekäme, kandidierte deswegen und wurde tatsächlich gewählt. Eine meiner ersten Amtshandlungen war, bei der Initiative »Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage« mitzumachen, die sich mit den Problemen von Ausländern beschäftigte. Endlich hatte ich die Möglichkeit, Leute über die Situation von Asylbewerbern aufzuklären. Endlich konnte ich den Menschen um mich herum erzählen, wie es ist, hier zu sein, aber nicht akzeptiert zu werden. Ein Zuhause zu haben, aber sich nicht heimisch zu fühlen.
Es war das erste Mal, dass ich mich in einer staatlichen Institution wie ein Mensch – und nicht wie eine Zahl – empfand. Im Gegensatz zur Ausländerbehörde, bei der ich nur ein Aktenzeichen hatte und ein Sachbearbeiter mich bearbeitete, konnte ich hier gleichberechtigt mitdiskutieren und meine Meinung äußern. Dort war ich nur ein Fall mit Paragrafen, hier ein Mensch mit Gefühlen, Bedürfnissen und Verstand. Die Arbeit als Schulsprecher war mir sehr wichtig, aber heute musste sie ausnahmsweise zurücktreten.
Nachdem ich mit dem Ausdrucken der Plakate und Flugblätter fertig war, eilte ich zum Raum, wo für die nächsten zwei Stunden die Versammlung der Schülervertretung stattfinden würde. Ich begrüßte meine
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