Unerwünscht: Drei Brüder aus dem Iran erzählen ihre deutsche Geschichte
Entscheidung treffe und er guter Dinge sei. Und so besuchte Madar seit Beginn ihrer Ausbildung abwechselnd die Schule, paukte und arbeitete im Lengericher Krankenhaus.
Neulich, als sie müde von der Arbeit zurückgekommen war, fragte ich sie, ob es ihr immer noch gefiel. Ein bettreifes Lächeln ging über ihre Lippen. Sie sagte, es sei sogar noch besser, als sie es sich vorgestellt habe, denn sie fühle sich auch selbständiger, seitdem sie nicht mehr auf das Asylbewerbergeld angewiesen sei. Ich freute mich für Madar. Sie hatte wieder etwas im Leben gefunden, das sie glücklich machte. Und heute Abend würden wir auch ohne ihre Hilfe die Bude rocken!
MOJTABA Als der Applaus verebbte, war es schlagartig still im Raum. Wir standen auf der selbstgezimmerten Bühne und klammerten uns an unsere Instrumente. Unten im Zuschauerraum erblickte ich viele bekannte Gesichter: fast alle aus meiner Klasse, einige aus anderen Jahrgangsstufen, Freunde aus dem Jugendzentrum, Bekannte aus der Flüchtlingshilfe, Nachbarn. Sogar einige Lehrer waren gekommen. Ihre Köpfe folgten jeder meiner Bewegungen, wie Marionetten, deren Fäden ich in der Hand hielt. Sie drehten sich, als ich den Gitarrenkabelstecker in die passende Buchse steckte, oder als ich mich bückte, um unsere Setlist auf dem Boden zu positionieren. Ich schaute herüber zu den Jungs. Milad, Masoud und Timo waren startbereit. Dario, der sich an der Seite hinter dem Mischpult verschanzt hatte, streckte mir euphorisch den nach oben gerichteten Daumen entgegen. Es konnte also losgehen. Ich nahm mein Plektrum in die Hand und schloss die Augen. Kurz blitzte eine Erinnerung in mir auf: Ich sah uns drei als kleine Jungs mit struppigen Haaren und abgewetzten Klamotten. Wir liefen Madar hinterher, die unseren einzigen Koffer trug, und waren darauf bedacht, nah bei ihr zu bleiben. Sofort schüttelte ich mir das Bild aus dem Kopf. Heute Abend fühlte ich mich nicht mehr als der hilflose und ängstliche Flüchtling von damals. Ich öffnete meine Augen und holte tief Luft und zählte leise das erste Lied an: »Eins, zwei, drei. Eins, zwei, drei.«
Sobald die ersten Töne erklangen, lockerten sich meine Hände und der Backstein in meinem Bauch war auf einmal verschwunden. Mit jeder erfolgreich bewältigten Note wurde der Taktschlag meines Fußes sicherer und bald war alles nur noch Farbe und Klang. Unsere Instrumente schienen miteinander zu verschmelzen und zauberten eine psychedelische Melodie hervor. Fast fühlte ich mich wie einer meiner Gitarrenhelden von Metallica. Aber nur fast. Denn dann wendete sich das Blatt.
In den nächsten dreißig Minuten ging einfach alles schief, was schiefgehen konnte. Sogar für einen ersten Auftritt war das zu viel: Schon beim zweiten Lied setzte Masoud falsch ein, und nach einigen quälenden Takten voller schräger Töne mussten wir abbrechen und von vorn beginnen. Die Zuschauer munterten uns zwar mit bestärkendem Applaus auf, aber sie ahnten ja nicht, was sie noch erwartete. Beim dritten Stück rutschte Timos Bassgitarre aus der Öse seines Gurtes und fiel krachend auf den Boden. Timo gab sein Bestes, hockte sich hin, griff nach dem Instrument und spielte weiter, als wäre nichts passiert, doch er brachte nur noch ein furchtbar verstimmtes Grummeln hervor. Auch die nächsten Lieder strotzten nur so vor musikalischer Katastrophen: Eine gerissene Saite an meiner Gitarre, verpatzte Melodien und vor Aufregung in unterschiedlichen Geschwindigkeiten aneinander vorbeileiernde Instrumente: Es war ein komplettes Desaster.
Als die Zuschauer am Ende in Jubel ausbrachen, wusste ich, dass sie sich nur über ihre Erlösung freuen konnten. Am liebsten wäre ich im Erdboden versunken und wagte keinen Blick in Richtung Publikum. Stattdessen wandte ich mich Milad, Masoud und Timo zu. Sie sahen erschöpft aus. Mit gerümpften Nasen und skeptischen Blicken kümmerten sie sich bereits um den Abbau. Milad wischte sich den Schweiß von der Stirn, legte seine Geige in den kleinen Koffer und wollte rasch hinter die Bühne verschwinden, als die ersten Leute aus dem Publikum zu ihm eilten. Es waren seine Klassenkameraden. Sie klopften ihm auf den Rücken und schüttelten ihm die Hand. Langsam hellte sich Milads Miene auf und ein dünnes Lächeln deutete sich in seinem Gesicht an. Andere Zuschauer folgten und nach einer Weile war die Bühne voller Menschen. Wir waren umzingelt von Händen, die uns auf die Schulter klopften und unsere Haare zerzausten. Einige skandierten
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