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Unfassbar für uns alle

Unfassbar für uns alle

Titel: Unfassbar für uns alle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst (-ky) Bosetzky
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gebracht worden, ohne vorher auf dem Seziertisch zu landen. Unten im Keller hab ich mich dann versteckt und abgewartet, bis die Leichen nach oben getragen worden sind.»
    Ich sah ihn mehr als ungläubig an. «... das soll keiner gemerkt haben...?»
    «Doch, natürlich haben die das gemerkt.»
    Mein Erstaunen ging über in ein fast ein wenig höhnisches Lächeln. «Und auch noch gewinkt...»
    «Das nicht, aber... Die waren natürlich eingeweiht, gekauft, bestochen ...»
    «Die Russen?»
    «Nein, die deutschen Apparatschiks sozusagen. Die Russen hatten uns ja alles zur Selbstverwaltung überlassen. Es gab eine ausgeprägte Hierarchie. Wir hatten richtig Zehner- und Hundertschaftsführer. Jede Baracke wurde von einem deutschen Kompanieführer geleitet, so hieß das wirklich, einem herausgehobenen Mithäftling. Dann kam der Bataillonsführer... und so weiter. Und man konnte mit den meisten Leuten auch handeln. Ich hatte Glück im Unglück... Wir hatten im Schloß ein Billard, und noch Mitte ’44 wurde da gespielt. Mein Großvater war ein Meister des Queues. Er will mir einen Kunststoß zeigen, und ich gehe in die Knie, um alles besser verfolgen zu können, Kopf in Höhe der Bande. Mein Großvater rutscht ab, sein Stoßball trifft mich mitten ins Gesicht, und ich verliere einen Schneidezahn. Er ist untröstlich über meinen Schmerz und läßt mir einen Goldzahn einsetzen. Den breche ich mir hier im Lager raus und gebe ihn meinem Kompanieführer. Für einen Arbeitseinsatz außerhalb des Lagers. So kann ich meine Mutter sehen – und die steckt mir jedesmal das eine oder andere zu, was ich dann weitergebe. Sie werden mich in die Krankenbaracke bringen, obwohl ich nichts weiter habe als einen leichten Schnupfen. Der Baracken-, der Kompaniesanitäter wird nicht merken, daß ich simuliere. Das Leichenkommando wird nicht so genau achtgeben in der entscheidenden Nacht. Die Krankenpfleger haben ihre Kuhle Brot und warme Sachen bekommen. Es ist an alles gedacht. Der Arzt ist ein alter Freund der Familie, hat mit meinem Vater zusammen in Tübingen studiert. Ja, so sterbe ich dann, werde abgehakt und in den Schmachtenhagener Forst gekarrt. Bevor alles abgeladen wird, krieche ich raus und verschwinde im Gebüsch. Ich kenne die Gegend, ich schaffe die vielleicht zwanzig Kilometer bis Berlin, bis nach Frohnau. Das ist französischer Sektor. Zum Glück hatten wir keine Sträflingskleidung an, sondern zivile Sachen. Allerdings: der Kopf war kahlgeschoren. Aber ich hatte ja eine Mütze, und die Sonne ging vor halb acht nicht auf. Meine Mutter ist schon weg aus Friedrichsheide. Wir treffen uns bei einer Tante in Charlottenburg. Bloß weg aus Deutschland. Für immer. Am nächsten Tag sind wir in Dahlem bei den Amerikanern. Mit der Einwanderung gibt es keinerlei Schwierigkeiten.»
    «Und nun sind Sie doch wieder zurückgekommen...?»
    «Ja, Joan hat mich überredet, ein neues Leben wagen.»
    «Wie sind Sie denn überhaupt dahintergekommen, daß die F. F. Runge-Chemie...?»
    «Ein Bericht in der FAZ. Hab ich auf dem Flugplatz in Washington gesehen...»
    Woerzke war sichtlich erschöpft. Wir gingen schweigend zum Eingang der Mahn- und Gedenkstätte zurück.
    In dieser Minute war ich hundertprozentig überzeugt davon, den echten Waldemar v. Woerzke vor mir zu haben. Es war ihm wirklich anzumerken, daß er das alles selber erlebt hatte. Da stimmte jedes Detail. In meiner Sucht, groß rauszukommen, hatte ich mich wieder einmal verrannt. Der ‹Falsche Waldemar› des Jahres 1347 hatte keinen Nachfolger gefunden. Und den Mörder von Luise Tschupsch hatten wir auch anderswo zu suchen als im Umkreis Woerzkes.
    Nun ja...
    Wir traten auf die Straße der Nationen hinaus, und ich fragte Woerzke, ob ich ihn im Dienstwagen bis zum Bahnhof beziehungsweise bis zum Taxenstand mitnehmen könnte.
    «Vielleicht mit dem kleinen Umweg über den ‹Seeblick Lehnitz›... Joan wartet dort, wir wollen gleich essen.»
    «Aber gerne...»
    Beim Wenden hätte ich fast einen Mitarbeiter der «Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten» angefahren. Ich sah seine Plastikkarte vorne am Parka. Ein Herr T. Er wartete offensichtlich auf eine Gruppe, die sich für eine Führung durch das KZ angemeldet hatte.
    Als er Woerzke erkannte, winkte er ihm zu wie einem guten alten Bekannten...

24. Szene
Mordkommission
    Kaum war ich wieder im Büro, suchte ich mir die Nummer der Gedenkstätten-Stiftung heraus. Das war gleich nebenan bei uns in Oranienburg. 81 09 12. Ich hatte Glück,

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