Unfassbar für uns alle
Herr T. war gerade von seinem Rundgang zurück.
Ich knüpfte an unsere kurze Begegnung vor dem Eingang an.
«Mannhardt mein Name, Mordkommission, wir haben uns ja eben schon kurz gesehen... Weswegen ich mich für den ganzen Komplex interessiere, das Speziallager des NKWD, ist folgendes: das Opfer, die Frau Tschupsch, hat sich kurz vor der Tat bei den Massengräbern in Schmachtenhagen aufgehalten und war die Jugendliebe von Herrn Woerzke. Warum ist sie ausgerechnet kurz vor seiner Heimkehr nach Oranienburg erschossen worden? Zufall oder ein Umstand, der mit dem Lager zusammenhängt...? Und darum die Frage an Sie, ob Ihnen in der letzten Zeit etwas aufgefallen ist, das uns weiterhelfen könnte...?»
Herr T. überlegte einen Augenblick. «Nein... Eigentlich nicht...»
Ich mußte etwas direkter werden. «Sie haben sich doch sicher ausgiebig mit Herrn Woerzke unterhalten...»
«Ja, er hat an einer der üblichen Führungen teilgenommen und mir danach erzählt, daß er damals selber hier gewesen ist.»
Danach... Das war das entscheidende Wort.
«Gut...» Einen direkten Verdacht gegen ihn auszusprechen, hielt ich nicht für opportun. Ich versuchte, das Ganze ins Private abzubiegen. «Sie sammeln die Aussagen ehemaliger Häftlinge für die Veröffentlichung...?»
«Ja.»
«Da hat Ihnen Woerzke ja sicherlich tüchtig weiterhelfen können. »
Herr T. zögerte ein wenig. «Das meiste ist doch schon bekannt und wiederholt sich immer wieder...»
Ich lachte, so harmlos ich konnte. «Da haben Sie ihm mehr erzählen können als er Ihnen.»
«Fast, ja.»
«Mich interessiert das Thema auch... Gibt’s denn da schon Literatur drüber?»
«Ja, sicher...» Herr T. nannte mir einige Veröffentlichungen. «Benno Prieß, (Unschuldig in den Todeslagern des NKWD», oder die Fachtagung über die Internierungspraxis in Ost- und Westdeutschland nach 1945...»
«Ah ja...» Ich bedankte mich und legte wieder auf.
Die Sache war klar. Black oder Wolmir, wie auch immer, hatte sich vorher kundig gemacht, Bücher gelesen und Herrn T. auf geschickte Weise ausgefragt. Für die Presse reichte sein Wissen allemal. Auch ich war ja voll darauf reingefallen. Was ihm zugute kam war der Umstand, daß sich komplexe Erlebnisse wie eine Operation, das Erringen einer Meisterschaft, ein Kriegseinsatz oder ein KZ-Aufenthalt im nachhinein leicht auf wenige Sätze, Bilder und Klischees reduzieren ließen und der Zuhörer oder -seher dennoch einen ganzheitlichen Eindruck von allem gewann, weil bei ihm auf wenige Signale fast immer feuerwerksartig viele Assoziationen folgten. Sagt einer zu mir ‹Weihnachten», dann denke ich sofort an Kirche, Kerzen, Tannenbaum, Weihnachtsmann, Geschenke, Gänsebraten, ohne daß mir das alles ausführlich berichtet werden müßte. Und sagt einer ‹KZ›, dann weiß ich ebenso Bescheid, ohne daß ich Einzelheiten gehört hätte. Auf diesen Effekt hatte auch der zweite falsche Waldemar gebaut. Wie leicht sich Menschen doch austricksen ließen. Jetzt galt es erst recht, ihn zu entlarven. Aber nichts überstürzen, die Sache mit aller Vorsicht angehen...
So wandte ich mich erst einmal meinen Zeitungen zu. Der erste Blick galt der Sportseite des Oranienburger Generalanzeigers. Ich zuckte regelrecht zusammen...
«Motor Hennigsdorf gegen Energie Cottbus»
War die DDR über Nacht auferstanden aus ihren selbst geschaffenen Ruinen...?
Nein, da stand auch etwas von Eintracht Oranienburg. Nicht Empor, Vorwärts, Stahl, Aktivist oder Dynamo. 6:2-Sieger gegen Rot-Weiß Flatow. Flatus, der Furz. Dann schon lieber in Berlin zu Hause.
Was gab’s ansonsten noch im neuen Großkreis Oberhavel?
Forstarbeiter aus Gransee waren im «Dorfkrug» von Linow mit einer Motorsäge, einer Schreckschußpistole und einer Axt auf die Einheimischen losgegangen.
In der Wittstocker Heide, zwischen den Gemeinden Flecken Zechlin und Schweinrich, hatte jemand aus Protest gegen den dortigen Bombenabwurfplatz einen Gemarkungsstein mit schwarzer Farbe beschmiert.
Die Märkische Allgemeine meldete, daß man in der Uckermark-Kreisstadt Prenzlau einen Kamm aus dem Mittelalter gefunden hatte.
Des weiteren
– Fontane-Preis für Nachwuchsforscher
– Seit 85 Jahren heißt es in Bergfelde «Wasser marsch!»
– Verkehrsinfarkt im Hennigsdorfer Zentrum.
Ich legte den Kopf auf die Schreibtischplatte, um ein wenig zu schlafen. Sylvester hatte die halbe Nacht gekräht und durch die Wohnung getragen werden müssen.
Yaiza Teetzmann kam hereingestürmt und
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