Ungeahnte Nebenwirkungen
den Lippen. Sie schluckte mehr Schmerztabletten als sonst, denn sie sagte sich, dass sie die körperlichen Beschwerden auf ein Minimum reduzieren sollte, um genügend Kraft für die Herzschmerzen aufzubringen.
Mirjams Verhalten warf zweifelsohne Fragen auf, doch Nicole hätte diese nicht unbedingt beantwortet haben müssen, wenn statt dessen die Frau ihrer schlaflosen Nächte sie wieder besucht hätte. Die Zahnärztin ließ sich nicht blicken, meldete sich auch sonst nicht.
Nicole versuchte es mit Gedankenübertragung, mit positivem Denken, mit unablässigem Wünschen, doch alles nützte nichts. Schließlich ging sie dazu über, Mirjam ins Pfefferland zu wünschen, alle ihre Mängel auf einem Blatt zu notieren, das sie in die Küche an die Pinnwand hängte. Auch das half wenig, die Sehnsucht nach ihr blieb.
»Sie ist nichts Besonderes, sie ist überhaupt nichts Besonderes«, murmelte Nicole auf dem Weg zur Bibliothek vor sich hin. »Das einzig Attraktive an ihr sind die blauen Augen«, fuhr sie sich selbst überzeugend fort. »Und vielleicht noch die sinnlichen Lippen, der Busen, ja, und auch die Figur ist nicht ohne. Wie sie geht, so beschwingt, und wie sie den Kopf leicht zur Seite neigt, wenn sie lächelt«, komplettierte Nicole die Aufzählung. Dann hielt sie inne.
Das waren mehr Punkte, als sie für die Mängelliste an der Pinnwand gefunden hatte – und ihre Gedanken hatten noch weitere Punkte aufgeführt.
»So ein Ärger«, seufzte Nicole, »ich bin tatsächlich verliebt!«
Sie schüttelte heftig den Kopf, als ob dadurch die Sehnsucht nach der Dunkelhaarigen von selbst verfliegen würde.
In der Bibliothek hielt sich Nicole immer stundenlang bei der Auswahl der drei Bücher auf, die sie nach Hause nehmen wollte. Sie studierte die Texte auf den Buchdeckeln, verglich die Schreibstile der Autoren, indem sie jeweils ein Kapitel überflog, legte dann Buch um Buch auf ihren Platz, der sich immer am gleichen kleinen Tisch in der Nähe der Tür zum Lagerraum befand, und stöberte weiter.
Nicole legte sich nie fest. Sie liebte die Klassiker und Romantiker gleichermaßen, verschlang Krimis im selben Tempo wie Liebesromane, die ganz unverschämt auf die Tränendrüsen drückten, bildete sich mit Reiseberichten aus fremden Ländern weiter und konnte sich stundenlang an Tierfotografien und der Beschreibung der Lebensgewohnheiten der abgebildeten Zwei-, Vier-, Sechs- oder Achtbeiner ergötzen. Im stillen dankte sie der Bibliotheksleitung für die Öffnungszeiten, die es ihr ermöglichten, bis abends um zehn in den Hallen des Wissens und der Unterhaltung zu schmökern.
Die heutige Bücherwahl hätte jeden Psychologen in helle Aufregung versetzt – und vielleicht auch in Vorfreude. Nicoles Bücher trugen Titel wie »Der Tod, die letzte Herausforderung«, »Der Teufel und das Leid« und »Verlassen von der Liebe«.
Das letzte Buch, das wusste Nicole genau, würde tragisch enden, denn sie hatte entgegen ihrer Maxime das Schlusskapitel bereits gelesen. Doch genau der dramatische und traurige Ausgang der Geschichte hatte sie bewogen, sie mitzunehmen. Eigentlich seltsam, sinnierte Nicole auf dem Nachhauseweg, dass wir immer dann, wenn wir nicht gut drauf sind, nach Menschen suchen, denen es noch dreckiger geht. Obwohl dieser Gedanke ihr die eigene Feigheit vor Augen führte, konnte sie sich unmöglich mit Mirjam konfrontieren.
Selbstredend hatte sich Nicole schon tausend Entschuldigungen ausgedacht, warum sie untätig und fast schon fatalistisch auf den nächsten Zahnarzttermin wartete und nicht versuchte die Situation zu bereinigen. Ihr war bewusst, dass Bereinigen durchaus auch das Verlieren beinhalten konnte.
Wenn sie aber Mirjam schon nicht in ihr Bett zu locken vermochte, wollte sie doch wenigstens von ihr träumen können und glauben dürfen, dass sie die Traumfrau irgendwann eben doch wieder in ihren Armen hielte. Vernunft war bei diesen Gedanken sicherlich nicht die dominierende Geisteshaltung, da stand eher der Wunsch Pate.
Nicole vermied jede Gelegenheit zu einem persönlichen Gespräch mit Helen. Sie arbeitete viel im Verkauf, ließ ihre Freundin die Kasse und die Buchhaltung machen und setzte sich nur kurz für einen Kaffee in das kleine Büro, wenn Helen ganz sicher mit einem Telefonat oder einem Kunden beschäftigt war. Nicole wusste, dass ihr Verhalten nicht eben als unauffällig bezeichnet werden konnte, doch sie fühlte sich den bohrenden Fragen, die Helen wie keine zweite beherrschte, nicht
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