Ungeahnte Nebenwirkungen
zu gehen, brachte die Zahnärztin wieder die größtmögliche Distanz zwischen sie. Sollte sie nochmals husten? Einfach so? Nur damit die andere wieder näher kam? Nein, Nicole verwarf den Gedanken, denn bestimmt würde ihr falsches Spiel durchschaut, da sie von Natur aus einfach zu ehrlich war.
»Lassen Sie sich noch einen Termin geben«, forderte die Zahnärztin sie auf, während sie geschäftig die Instrumente auf ihrem kleinen Tablett sortierte, was eigentlich gar nicht ihre Arbeit gewesen wäre.
Nicole verstand den Wink mit dem Zaunspfahl und stand auf. Sie wollte sich von Mirjam verabschieden, doch die ignorierte sie völlig. Betreten verließ Nicole das Behandlungszimmer und ging zur Anmeldung.
Der Termin für die Nachuntersuchung, den sie erhielt, war erst in einem Monat. So lange sollte sie auskommen, ohne Mirjam zu sehen? Nicht einmal der Anblick ihres Rollkragenpullovers wurde ihr eher zugestanden? Wie sollte es möglich sein, einen Monat in Selbstmitleid zu zerfließen, ohne den Grund dafür auch nur zu Gesicht zu bekommen?
Nicole atmete tief durch und versuchte die Enttäuschung zu verdrängen. Sie würde jede Menge Bücher lesen müssen in diesem Monat, um die Wartezeit überstehen zu können. Ob es in der Bibliothek genug Lesestoff über Tod, Unglück, Trauer und Ungerechtigkeit gab?
~*~*~*~
» B itte, bitte, bitte, komm mit!« Helens Stimme hatte einen flehenden Ausdruck angenommen. Dass sie vor Nicole nicht noch auf die Knie fiel, grenzte schon fast an ein Wunder.
Nicole schüttelte den Kopf. »Du weißt doch, dass ich mit Discos nichts anfangen kann! Ich kriege kaum zwei Drinks am gleichen Abend durch meine enge Kehle, mit dem Tanzen habe ich meine liebe Mühe, egal, ob ich allein aufs Parkett soll oder ich dazu aufgefordert werde. Wirklich, Helen, bei aller Freundschaft, ich möchte lieber nicht mitkommen!« erklärte Nicole.
Helen gab so schnell nicht auf, das hätte Nicole auch gewundert. »Bitte, Nicole, komm mit. Ich kann unmöglich allein dort erscheinen, da trau’ ich mich noch nicht mal durch die Tür.« Sie schwieg für einen Moment. Dann fuhr sie mit einem erwartungsfrohen Glitzern in den Augen fort: »Anna wird wahrscheinlich dort sein. Du weißt schon, ich habe dir von ihr erzählt. Jedenfalls sagte sie neulich, dass sie auf der Disco wäre.«
Nicole stöhnte laut auf, obwohl sie redlich versucht hatte, diese Gefühlsäußerung zu unterdrücken. Ausgerechnet Anna. Sie hatte sie nicht erst durch Helens sehr subjektiv gefärbte Beschreibung kennengelernt, sondern war ihr selbst schon einige Male bei Anlässen von Frauen für Frauen über den Weg gelaufen.
Dieser weibliche Kojak mit glattrasiertem Schädel trug Piercings, dass einem die Augen weh taten. Wahrscheinlich sah man eh nur einen kleinen Teil der Nadeln, Knöpfe und Figürchen, die die Frau an oder in ihrem Körper trug. Groß und flachbrüstig erschien sie in Nicoles Augen sowieso alles andere als begehrenswert. Sie wollte mit Helen jedoch nicht über den ihrer Meinung nach guten Geschmack streiten, denn das hätte wenig Sinn gehabt. Wie Nicole unschwer hatte erkennen können, war Helen in diese schlaksige Person verliebt, und dies bis weit über beide Ohren, die bei Helen eh schon ziemlich hoch saßen.
Entgegen ihrer guten Vorsätze ließ Nicole doch etwas verlauten, das einer Kritik gleichkam. »Was findest du an diesem Glatzkopf?« fragte sie.
»Sie ist so . . .«, Helen suchte nach einem passenden Ausdruck, »so anders, so radikal. Und sie ist so süß!!« Helen schaute mit sehnsüchtigem Blick an die Decke.
Nicole wandte ihre Augen spontan ebenfalls nach oben, doch sie konnte dort trotz aller Anstrengung keine Traumgestalt ausmachen, weder mit noch ohne Haar. Statt dessen sah sie eine weiße Decke und eine dicke Schicht Staub, die sich auf dem nostalgisch wirkenden Lampenschirm über der Verkaufstheke angesammelt hatte. Sie würde die Putzhilfe darauf aufmerksam machen müssen, ging es ihr durch den Kopf.
»Also, was ist?« holte Helen sie aus ihren verstaubten Gedanken zurück.
Der flehende Blick, mit dem sie Nicole bedachte, verfehlte seine Wirkung nicht ganz. »Ich werde darüber nachdenken«, beschied ihr Nicole zurückhaltend.
Helens Gesicht begann zu strahlen. Sie umarmte Nicole impulsiv und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. »Ich wusste, ich kann mich auf dich verlassen!« jubelte sie, ehe sie sich mit tanzenden Schritten in Richtung Lager davonmachte.
Nicole gab ihren Code in den
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