Ungeahnte Nebenwirkungen
es schien effizient. Ab und zu gab sie der Assistentin einen kurzen Hinweis, doch ansonsten war nichts zu hören als das Saugen der Schläuche und die Geräusche, die die Folterinstrumente in Nicoles Mund verursachten.
Mit einem »Kling« fiel etwas in eine Schale. Nicole schlug die Augen auf und blickte direkt in das dunkelste Blau, das sie bei Augen je gesehen hatte. Dr. Schiesser lächelte sie zufrieden an.
»Er ist draußen«, informierte sie ihre Patientin lakonisch und hob die Schale vor Nicoles Gesicht.
»Ich hätte ihn gern am Stück rausgezogen, doch die Wurzeln lagen derart quer, dass ich ihn auseinanderbohren musste. Tut mir leid«, erklärte sie mit einer entschuldigenden Handbewegung auf die beiden Teile des blutverschmierten Zahnes, der tatsächlich ziemlich groß und auch recht verkrümmt aussah.
Nicoles Augen weiteten sich entsetzt. So was habe ich in vierfacher Ausführung? fragte sie sich schockiert. Auf Geheiß der Ärztin spülte sie ihren Mund aus, was ein ungewöhnlich schwieriges Unterfangen darstellte, denn die eine Seite ihres Gesichts fühlte sich völlig taub an.
Dr. Schiesser entledigte sich ihrer Handschuhe. Sie wusch die Hände kurz ab und setzte sich wieder auf ihren Hocker, mit dem sie nach vorn rollte. Der Kittel stand wieder offen, die Knöpfe der Bluse ebenfalls! Nicole bekundete schon wieder Schluckbeschwerden. Diese Frau spielt mit mir, schoss es ihr durch den Kopf. Sie wandte sich nach der Assistentin um, doch die hatte den Raum längst verlassen.
»Ich habe die Wunde mit drei Stichen genäht«, erläuterte Dr. Schiesser, »Sie bekommen vorn bei der Anmeldung noch Schmerztabletten, denn es wird bestimmt ganz schön ziehen, wenn die Wirkung der Spritze nachlässt.«
Sie beugte sich nach vorn und strich mit ihrem Finger über Nicoles betäubte Wange. Der Finger glitt vor zu ihrem Mundwinkel. Wieso spüre ich nichts? dachte Nicole verzweifelt.
»Ein Blutstropfen«, murmelte die Zahnärztin etwas abwesend.
Ihr Finger hatte Nicoles Gesicht verlassen und strich ihren Hals hinab. Nicoles Herz hämmerte im Stakkatotakt. Jetzt passiert’s, hoffte sie.
Beim Lätzchen, das überall Spuren der Operation aufwies, hielt der Finger inne. Dr. Schiesser wischte ihn ab und zog die Hand so schnell zurück, dass sie auf ihrem Hocker fast das Gleichgewicht verlor.
Nicole unterdrückte das Grinsen im letzten Moment. Ganz spurlos schien diese Begegnung auch nicht an Mirjam Schiesser vorüberzugehen, folgerte sie.
Die Zahnärztin befreite Nicole aus dem Stuhl und wies sie an, eine Stunde lang nichts zu sich zu nehmen, als ob sie das überhaupt im Sinn gehabt hätte. Bei der Verwirrung, die in ihren Eingeweiden herrschte, würde Nicole nichts bei sich behalten können.
Falls Komplikationen auftauchten, sollte sie sich in der Praxis melden. Nicole nickte. Sie traute ihrer Stimme nicht ganz, zu viele chaotische Gefühle hatten sich ihrer in der vergangenen knappen Stunde bemächtigt, dennoch fragte sie: »Wie lange vertreten Sie Dr. Wild?«
Ein seltsamer Glanz trat in Dr. Schiessers Augen. »Fünf Monate. Er macht eine Weltreise mit seiner Frau.« Sie beantwortete die Frage in neutralem Tonfall.
Nicole nickte, ihr fiel dazu nichts ein, außer: Toll, ich freue mich, denn dann sehe ich dich noch mindestens drei Mal! Das konnte sie aber schlecht anbringen, nicht in dieser Situation jedenfalls.
Nicole verabschiedete sich mit einem sehr flüchtigen Händedruck von der Zahnärztin, mehr vertrug ihr arg strapazierter Kreislauf heute nicht mehr.
An der Anmeldung holte sie die angekündigten Tabletten, ließ sich einen neuen Termin für die folgende Woche geben, nahm ihre Jacke und verließ fast fluchtartig die Praxis. Mit einem Blick aus den Augenwinkeln erkannte sie Dr. Schiesser, die mit zugeknöpftem weißen Kittel den nächsten Patienten in Empfang nahm.
~*~*~*~
A us tiefstem Herzen kam der Seufzer, mit dem sich Nicole zu Hause auf ihr Sofa fallen ließ. Es war nun wirklich nicht ihr erster Zahnarztbesuch in ihrem über dreißig Jahre lang dauernden Leben gewesen, doch noch nie hatte sie sich nachher derart abgekämpft und ausgelaugt gefühlt.
Allmählich schien ihr betäubter Gesichtsteil zu erwachen. Wie vorausgesagt, setzte ein unangenehmes Ziehen ein. Noch war der Schmerz erträglich, entschied Nicole, und versuchte sich in ihre Lektüre zu vertiefen.
Im stillen gratulierte sie sich, dass sie den ganzen Tag freigenommen hatte, denn heute wäre sie zu nichts mehr zu gebrauchen
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