Ungeahnte Nebenwirkungen
verstehen?« fragte sie. »Vergiss es! Das klappt nicht. Er hat soviel in seine Kunst gepackt, dass es nicht möglich ist, sie anzuschauen und gleichzeitig zu verstehen. Genieße doch einfach die Farbkompositionen, die Formen und sieh das, was du zu sehen glaubst. Das reicht schon«, riet Mirjam ganz Kennerin.
Nicole schüttelte den Kopf. »Entweder, einer malt realistisch oder lässt es ganz bleiben. Was Dalí macht, ist irgend etwas dazwischen. Das sagt mir nicht zu«, versuchte sie ihre Abneigung zu erklären.
Mirjam nickte. »Als ich das erste Mal das Dalí-Museum in St. Petersburg, Florida, besucht habe, ging es mir ähnlich. Irgendwie nahm mich aber diese Vielschichtigkeit dann doch gefangen.«
Nicole seufzte innerlich. Ihr würde es bestimmt nicht so ergehen, das konnte sie jetzt schon mit Bestimmtheit sagen. Eben wollte sie Mirjam darüber informieren, doch diese stand schon vor dem nächsten Bild und schien nicht mehr ansprechbar zu sein. Nicole setzte sich in einen Sessel und beobachtete missmutig die Leute. Sie schnappte den einen und anderen Gesprächsfetzen auf. In diesem Raum sprach niemand Spanisch, soviel war sicher. Die Beobachterin machte sich einen Spaß daraus, die Menschen einer Nationalität zuzuordnen, bevor sie sie sprechen hörte. Auf diese Weise verging die Zeit wie im Flug, und amüsieren konnte sie sich auch noch dabei.
Als Mirjam schließlich entschied, genug gesehen zu haben, verließ Nicole ihren Posten fast widerwillig.
Das Café, in dem sie sich zwei Hocker an der Bar hatten ergattern können, war eine Entdeckung. Unzählige Kaffeesorten warteten darauf, probiert zu werden. Während sie ihren Koffeinspiegel in unverantwortliche Höhen ansteigen ließen, planten sie ihren Ausflug nach Süden.
Sie hatte ihren Namen verdient, die Costa Brava, dachte Nicole, als sich ihr Fahrzeug die steile Küstenstraße hinaufquälte. Wie eine schwarz glitzernde Schlange wand sich der asphaltierte Weg zwischen steilen Abhängen, lichtem Wald und engen Siedlungen hindurch. Sobald sie Städte und Dörfer hinter sich gelassen hatten, öffnete sich ihnen zur Linken ein atemberaubendes Panorama über das Meer, das sich gegen zerklüftete Felsen warf oder seine Wellen sanft über feinen Sand rollen ließ.
Im Wagen wurde es an diesem sonnigen Herbsttag bald schon ziemlich warm. Die beiden Frauen befanden sich noch nördlich von Barcelona, als Nicole sich schon fragte, ob sie sich ihr Ziel, Tarragona, nicht doch zu weit gesteckt hatten. Mirjam, die am Steuer saß, im Takt der Musik, die aus dem Autoradio klang, auf das Lenkrad trommelte, schien die Hitze nichts auszumachen. Immer wieder wies sie Nicole auf eine landschaftliche Besonderheit hin, auf spezielle Baumformen, auf den wunderschönen Ausblick oder auf architektonische Auffälligkeiten. Ihre Energie wirkte indes nicht ansteckend, wie Nicole bedauernd feststellte. Sie sehnte sich nach einer Pause, nach einem Sitzplatz, der sich nicht bewegte, denn sie fühlte sich auf dem Beifahrersitz nicht besonders wohl, da Mirjam einen etwas offensiven Fahrstil pflegte.
Allmählich veränderte sich die Landschaft. Das Grün, das in der Nähe der Pyrenäen vorherrschte, wich roter, sandiger Erde. Die Vegetation bestand aus schmalblättrigen Pflanzen, die ihren Feuchtigkeitshaushalt offenbar streng kontrollierten, um in der trockenen Hitze überleben zu können.
Nach fast dreistündiger Fahrt, Barcelona lag jetzt hinter ihnen, legte Mirjam endlich eine Rast ein. Sie stellte den Wagen auf einem großen, fast leeren Parkplatz ab, der sich in der Nähe eines breiten Sandstreifens befand. Hier herrschte in der Hochsaison sicherlich ein reges Kommen und Gehen, doch jetzt standen die Strandstühle sorgsam aufeinandergestapelt im Schutz der kleinen Holzbaracken, die im Sommer als Eis- und Getränkestände dienten.
»Lass uns ein paar Schritte gehen, um den Kreislauf wieder in Schwung zu bringen«, schlug Mirjam gut gelaunt vor. Nicole nickte dankbar, etwas frische Luft konnte nicht schaden.
Sie spazierten Hand in Hand den Strand entlang. Mirjam machte sich einen Spaß daraus, Nicole nahe an die am Ufer leckenden Wellen zu drängen, so dass Nicole vollauf damit beschäftigt war, ihre Füße trocken zu halten. »Dir geht’s wohl zu gut«, stellte sie nur scheinbar verärgert fest.
Mirjam lachte sie herausfordernd an. »Gefällt es dir nicht?« fragte sie unschuldig und gab ihr im gleichen Moment einen leichten Stoß. Die kleine Welle benetzte nicht nur Nicoles
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