Ungeahnte Nebenwirkungen
Umarmung, zog Mirjam ganz nah an ihren frierenden Körper und begann sich mit ihr zu wiegen. Sie sah, wie Tränen über Mirjams Wangen rannen, doch sie konnte nichts dagegen tun. Nicole verdrängte ihre Eifersucht, die sie aufzufressen drohte und konzentrierte sich auf den Schmerz ihrer Geliebten.
Mirjam war da, in ihrem Arm, sie war Realität, während Michaela nur als Gedanke, als Geist durch ihre Köpfe spukte. Niemals würde sich Nicole einem Gespenst ergeben, und sie war bereit, sich gegen die Erinnerung zu stellen, gegen diesen Schatten anzukämpfen. Sie wusste, dass es noch viel Zeit und noch mehr an Tränen kosten würde, doch wozu hatte sie ihre Geduld, ihren eisernen Willen und ihre Liebe, die ihr in diesem Moment das Atmen erschwerte?
Den Weg zum Wagen legten sie schweigend zurück. Nicole setzte sich hinter das Steuer, obwohl sie seit ihrer Führerscheinprüfung kaum mehr ein Auto gelenkt hatte. Vorsichtig fuhr sie durch die steilen Kurven und atmete erleichtert auf, als sie endlich den Scheitelpunkt der Straße erreicht hatte.
Der Ausblick, der sich ihr bot, war jetzt im gedämpften Licht der untergehenden Sonne fantastisch. Nicole stoppte den Wagen auf einem kleinen Ausstellplatz und genoss das Panorama, das sich vor ihr eröffnete. Mit einem Seitenblick auf Mirjam stellte sie fest, dass es keinen Sinn hatte, sie aus ihren Gedanken zu holen.
Mirjams Augen waren offen, den Blick starr nach vorn gerichtet, schien sie aber trotzdem nichts zu sehen. Ihr Gesicht, unbewegt und bleich, ließ erkennen, dass sie in ihren Erinnerungen versunken war, sie drohte darin zu ertrinken, doch Nicole sah keine Möglichkeit, dies im Moment zu verhindern. Durch diesen Tunnel musste Mirjam allein gehen.
Nicole startete den Wagen und nahm die Rückfahrt in ihr Urlaubsdomizil unter die Räder. Nach einigen Kilometern glaubte Nicole, Mirjam sei eingeschlafen. Sie hörte ihren regelmäßigen Atem, doch sie konnte im nun dämmrigen Innenraum des Wagens nicht sehen, ob sie die Augen geschlossen hatte.
Die Hand, die sich unvermutet auf ihren Oberschenkel legte, überraschte sie. Nicole griff danach und umschloss sie mit ihrer Rechten. Mirjams Hand fühlte sich kalt an, doch sie erwiderte den Druck. Noch immer sprachen sie nicht miteinander, aber Nicole spürte, wie das Band zwischen ihnen fester geknüpft wurde.
In dieser Nacht schliefen beide nicht besonders gut. Nicole hatte sich nah an Mirjam geschmiegt, doch sie fanden keine Ruhe. Die Erzählung von ihrer Flucht nach Japan hatte Mirjam zutiefst aufgewühlt. Sie gestand Nicole, dass sie in ihrer Heimatstadt nachher nie mehr richtig Fuß fassen konnte. Kaum betrat sie europäischen Boden, zog es sie auch schon wieder fort. Sie wollte vor ihren Erinnerungen fliehen, doch es gelang ihr nicht.
»Zwei, vielleicht drei Monate habe ich es jeweils ausgehalten, dann suchte ich mir eine Entschuldigung, um wieder in ein Flugzeug zu steigen, für ein halbes oder ein ganzes Jahr abzutauchen«, erklärte sie.
Sie seufzte. »Ich habe fast die ganze Welt gesehen. Überall habe ich kurze Zeit gearbeitet, mir meinen Trip verdient und mich in ein Abenteuer nach dem anderen gestürzt.«
Sie streichelte abwesend Nicoles Gesicht. In ihrem Blick lag Trauer, die wohl nie ganz verschwinden würde. »Ich weiß vom Intellekt her, dass die Flucht nie gelingen kann, da ich mich selbst ja immer mitnehme. Ich kann mir selbst nicht entkommen, doch es lenkt ab, in andere Kulturen einzutauchen, sich dem Überlebenskampf zu stellen, weil man nie weiß, was am nächsten Tag, in der nächsten Woche passieren wird. Es spielte im Grunde auch keine Rolle, denn ich hatte mit meinem Leben ja schon abgeschlossen.«
Mirjam schwieg, dachte lange nach, ehe sie leise sagte: »Zumindest glaubte ich lange, es gäbe nichts mehr, wofür es sich wirklich zu leben lohnte. Dann wurde Lisa geboren, das half mir, den Boden unter meinen Füßen wieder zu spüren.«
Nicole überlegte und rechnete nach. Das war vor fünf Jahren gewesen, wie sie wusste. Im Klartext bedeutete das, dass Mirjam zehn Jahre lang von einem Land ins andere, von einem Kontinent auf den anderen gereist war. Nicole konnte sich ein solches Leben überhaupt nicht vorstellen, obwohl sie selbst auch gern auf Reisen ging – aber bitte nicht allein! Sie brauchte einen festen Ankerplatz, die Aussicht auf ein Zuhause und sei es noch so klein. Diese Ungewissheit, ob man je wieder zurückkommen würde, nein, das war ganz und gar nicht nach Nicoles Geschmack.
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