Ungeahnte Nebenwirkungen
Wenn sie bedachte, wie nahe Mirjam ihrer Familie stand, verstand sie die ständige Nestflucht ihrer Geliebten noch viel weniger.
»Es war nicht genug«, erklärte Mirjam jetzt, »Lisa war nicht genug. Ich blieb zwar statt zwei Monate vielleicht vier oder sechs, doch dann wurden die Erinnerungen an Michaela wieder übermächtig und ich sah keine andere Möglichkeit, als wieder zu fliehen.«
Nicole verspürte plötzlich den Wunsch, Mirjam kräftig durchzuschütteln. Eigentlich hätte sie noch lieber Michaela die Leviten gelesen, ihr die Meinung posaunt, dass dieser Wunderfrau Hören und Sehen vergangen wäre, doch bis dato hatte sie noch keinen direkten Draht zu anderen Welten herstellen können, womit das hinfällig wurde.
Mirjam verfügte doch über ein gerütteltes Maß an Intelligenz, dachte Nicole ziemlich ärgerlich, wieso setzte sie diese nicht ein? Brauchte sie ihren Kopf nur zum Frisieren? Wäre es nicht endlich an der Zeit, alte Zöpfe abzuschneiden?
Mirjam hatte nicht ganz unrecht, wenn sie sagte, Nicole könne sie nicht lieben, wenn sie sie wirklich kenne. Ganz so endgültig würde sie es selbst zwar nicht ausdrücken, doch diese ständige Konfrontation mit Michaela stellte ihre Liebe zu Mirjam auf eine harte Probe. Sie fühlte, wie die Eifersucht an ihr nagte, wie die Wut in ihr anstieg. Sie kam sich vor wie ein Dampfkochtopf, dem das Ventil fehlte. Wenn nicht bald eine Wende eintrat, würde sie für nichts mehr garantieren können.
»Jetzt bin ich schon über ein Jahr wieder hier«, hörte Nicole, die eben die verschiedenen Möglichkeiten einer kontrollierten Explosion in Gedanken durchspielte, ihre Geliebte neben sich sagen.
Stimmt, dachte Nicole überrascht, das war ihr ganz entfallen. Über ein Jahr lang hielt es Mirjam schon am gleichen Ort aus. Bedeutete das etwa, dass die Zeit gekommen war, die Zelte abzubrechen? Nicole setzte sich auf. Der Gedanke gefiel ihr nicht einmal ansatzweise. Eine erneute Flucht würde sie nicht zulassen! Nie und nimmer! Doch wie wollte sie sie verhindern? Etwa mit Handschellen und Hausarrest?
Mirjam lächelte sie beruhigend an. Sie zog Nicole wieder in ihre Arme, küßte sie leicht auf den Mund und flüsterte: »Nein, Süße, ich habe nicht vor, irgendwohin zu fahren oder zu fliegen. Lisa reichte nicht, aber sie ist ja jetzt nicht mehr das Einzige, was mich hier hält. Vielleicht brauche ich noch viel Zeit, um zu verarbeiten, doch da es wie erwiesen nichts bringt, immer davonzulaufen, werde ich es auch unterlassen!«
Nicole seufzte erleichtert auf. Das wäre geklärt, zumindest für den Moment. Das mit der vielen Zeit müsste sie sich aber noch durch den Kopf gehen lassen, denn sie vertrat die Ansicht, dass fast sechzehn Jahre schon sehr, sehr viel Zeit waren.
Mirjam bestand darauf, dass sie ihren Urlaub kulturell nutzten. Nicole fand zwar, Kultur habe immer den Hauch von etwas Verstaubten, ja, manchmal auch Überflüssigem, doch sie ließ sich zu einem Kompromiss erweichen. Heute würden sie in Figueras das Dalí-Museum besuchen, im Gegenzug würde Mirjam nichts gegen die Ausfahrt auf der Panoramastraße nach Süden einwenden.
»Sollen das Eier sein?« fragte Nicole ihre Begleiterin irritiert und zeigte auf die goldenen Gebilde auf dem Dach des auffälligen Kubus, der die Blicke aller Besucher von Figueras auf sich lenkte.
Mirjam grinste. »Ja, vielleicht. Bei Dalí weiß man nie so genau, was er eigentlich meinte oder aussagen wollte. Dieses Museumsgebäude wurde wohl seiner Eigenart entsprechend gestaltet, schließlich ist man seinem berühmtesten Bürger doch etwas schuldig.«
Mit gemischten Gefühlen betrat Nicole hinter Mirjam das Gebäude, in dem sich schon jede Menge Touristen tummelten. Sie standen interessiert vor surrealistischen Gemälden und Skulpturen, von denen Nicole nicht wusste, was sie darstellen sollten. Statt der Ausstellungsstücke betrachtete sie die Besucherinnen und Besucher, die sich scheinbar fachkundig davor aufgestellt hatten.
Mirjam ließ ihren Blick über die Bilder schweifen. »Ich würde gern wissen, was sich der Künstler dabei gedacht hat«, sagte sie.
Nicole versuchte sich ebenfalls der Kunstbetrachtung zu widmen. Sie erkannte Füße, Schubladen, verschwommene Gesichtszüge – oder sollte das überhaupt ein Kopf sein, ein Mensch? Ihr sagte diese Art Malerei offenbar gar nicht zu, sie verirrte sich in ihren Versuchen, zu erkennen, zu interpretieren.
Mirjam stand neben ihr und beobachtete sie amüsiert. »Du willst ihn
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