Ungeahnte Nebenwirkungen
Geschäft stürmen, denn Nicoles Schuhparadies stand im Ruf, selbst Sonderwünsche Realität werden zu lassen. Wenn das nur mit allem anderen auch so einfach funktionieren würde wie mit Schuhen, dachte Nicole seufzend und wandte sich wieder der Jahresabrechnung zu.
Von Zeit zu Zeit, genauer, alle zwei Minuten, griff Nicole nach dem Telefon und wählte Mirjams Nummer. Die ersten fünf Mal legte sie auf, ehe der Klingelton erklang. Sie zitterte innerlich, denn sie wusste eigentlich nicht, was sie Mirjam sagen sollte.
»Komm zurück«? Warum denn?
Oder vielleicht: »Es tut mir leid, dass ich so unfair war«? War sie unfair gewesen? Müsste nicht eher Mirjam anrufen, um sich dafür zu entschuldigen, dass sie immer wieder Michaela ins Spiel brachte?
»Ich liebe dich, ich kann nicht ohne dich leben«, versuchte Nicole in Gedanken zu sagen. Vorher hatte sie aber auch ohne Mirjam gelebt!
»Verflixt noch mal!« schimpfte Nicole laut vor sich hin.
Solange sie sich nicht entscheiden konnte, ob sie sich bei Mirjam für ein unangemessenes Verhalten entschuldigen musste oder umgekehrt, solange musste sie mit dem Anruf warten.
Dennoch, das Telefon zog sie magisch an. Sie tippte jedes Mal die Nummer neu ein, obwohl der moderne Apparat selbstredend über eine Wiederwahltaste verfügte. Das Drücken der Zahlen linderte Nicoles Nervosität etwas, die aber neu aufflammte, sobald sie die letzte Ziffer gedrückt hatte.
Beim etwa tausendsten Mal ließ Nicole das Telefon klingeln. Nach dem vierten Impuls meldete sich der AB, der ihr emotionslos mitteilte, der Teilnehmer sei im Moment nicht erreichbar, doch er würde, wenn gewünscht, zurückrufen, man wolle bitte die Nummer hinterlassen.
Nicole hörte sich den Spruch ungezählte Male an diesem Nachmittag und Abend an, doch sie sprach nie aufs Band. Sie wusste, dass der Apparat ihre Anrufe aufzeichnete, Mirjam würde sich ihren Reim darauf machen – und sich hoffentlich genötigt fühlen, selbst zum Telefon zu greifen.
Sehr produktiv war Nicoles Tag zwar nicht verlaufen, als sie abends spät jedoch endlich die Wohnungstür hinter sich schloss, ließ sie sich dennoch erschöpft auf die Couch fallen. Das Lämpchen ihres eigenen ABs blinkte nicht, niemand hatte angerufen!
Drei Tage nach Nicoles folgenschwerem Ausbruch begann das eigentliche Leiden. Der Ärger über Mirjams Fehlverhalten, wie Nicole es in Gedanken nannte, war abgeklungen, die Wut verraucht. Es blieb die Leere und die Sehnsucht nach der einen Frau, die sie ausfüllte.
Nicole hatte schon Muskelkater in den Fingern, weil sie fast pausenlos die Telefontasten traktierte. Mirjam hob nie ab, sie antwortete nicht auf die Nachrichten, die Nicole ihr auf Band sprach. Sie meldete sich nicht, tauchte weder in der Wohnung noch im Geschäft auf, obwohl sie doch mehr als genug Zeit dazu gehabt hätte, denn sie arbeitete im Moment nicht, wie Nicole mit Sicherheit wusste.
Nicole kratzte ihren ganzen Mut zusammen und beschloss, Mirjam in ihrer Wohnung aufzusuchen. Sie würde demütig zu Kreuze kriechen, wenn ihre Liebste nur zu ihr zurückkehren würde. Nichts war zuviel, denn Mirjam gehörte zu ihrem Leben wie ihr Pulsschlag.
Das Klingeln hallte durch den Flur, doch es blieb das einzige Geräusch, das die Stille im schmutzigen Treppenhaus des Blocks durchbrach. Mirjam war nicht zu Hause – oder sie wollte Nicole nicht sehen. Nicole versuchte eine Woche lang zu Mirjam durchzudringen, doch die Wohnungstür blieb verschlossen.
Schließlich verlegte sich Nicole aufs Briefeschreiben. Jeden Tag verfasste sie feurige Liebeserklärungen, brachte steinerweichende Entschuldigungen zu Papier. Sie versprach Mirjam alles, was sich eine Frau auf Erden nur wünschen konnte.
Nicole übertraf sich selbst und – dies registrierte sie nun doch mit ziemlichem Erstaunen – sie meinte es wirklich ernst. Sie würde alles, absolut alles tun, wenn Mirjam ihr nur Gelegenheit geben würde, sie von ihrer Liebe zu überzeugen.
Mirjam antwortete nicht. Sie schien wie vom Erdboden verschluckt. So sehr sich Nicole auch bemühte, sie erhielt nicht das leiseste Lebenszeichen von ihrer Liebsten. Allmählich begann sich Nicole zu fragen, ob sie sich Mirjam in einem Fieberwahn vielleicht nur ausgedacht hatte. Allerdings, dieser Wahn hätte dann doch ein unvorstellbares Ausmaß gehabt!
Der Appetit hatte sich verabschiedet. Nicole aß pro Tag widerwillig ein Stück Brot, ließ sich zu einem Salat als Mittagessen überreden, doch mehr konnte sie beim
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