Ungeahnte Nebenwirkungen
hochstieligen Glas. Sie hatte sich für diesen besonderen Abend, es war immerhin Silvester, einen spanischen Sekt gegönnt. Der Arestel Cava semi seco stammte aus Katalonien.
Wenn es Nicole wirklich schlecht ging, unterließ sie nichts, um sich selbst noch mehr zu Boden zu drücken. Der Cava war ein eindeutiges Zeichen für eine ausgewachsene Depression, denn anders ließ sich die selbstzerstörerische Wahl des berauschenden Getränks, das sie an eine unwirklich scheinende, sehr glückliche Zeit erinnerte, nicht erklären.
Der Zettel mit der etwas wackligen Schrift – und damit das vergangene Jahr – sollten mit einem von Nicole eigens dafür kreierten Ritual endgültig der Vergangenheit und damit auch dem Vergessen überantwortet werden. Nicole hielt das brennende Streichholz an das Papier, doch es fing kein Feuer. Nicoles Tränen hatten das Blatt so sehr aufgeweicht, dass es der Flamme keine Nahrung mehr bot.
Nicht mal das klappte mehr, dachte Nicole, die bereits ziemliche Mühe mit den logischen Gedankengängen bekundete.
Deprimiert wie sie sich fühlte, ließ sich Nicole in das Polster der Couch zurücksinken. Vor ihrem inneren Auge liefen unaufhaltsam die Ereignisse der vergangenen Monate wieder und wieder wie ein Film ab. Sie suchte nach dem Fehler, den sie begangen hatte, obwohl sie eigentlich genau wusste, wann und wie er geschehen war. Dennoch ließ sie die Frage nicht los, weshalb ihr Mirjam damals auf dem sonnenbeschienenen Balkon versichert hatte, dass sie sich nicht vorstellen könne, mit einer anderen Frau als mit Nicole zusammen zu sein. Es ergab keinen Sinn, dass nur wenige Wochen später Michaela wieder in ihr gemeinsames Leben eindrang und es für immer zerstörte.
Vielleicht hätte Nicole Helens Einladung zur Silvesterparty, die sie zusammen mit Anna für ihre Freundinnen und Freunde ausrichtete, doch annehmen sollen. Zwar fühlte sich Nicole auch nach den über drei Wochen, die seit Mirjams endgültigem Verschwinden vergangen waren, nicht in der Lage, auch nur zwei zusammenhängende Sätze zustande zu bringen, aber die Ablenkung durch andere Menschen hätte sie vielleicht endlich auf andere Gedanken gebracht.
Nein, überlegte Nicole, die in ihrer stillen Wohnung darauf wartete, dass sie wieder zu leben begänne, es hätte wohl nichts gebracht. Sie hätte neidisch die verliebten Paare beobachtet, die sich ganz bestimmt auf einer solchen Party mit dem Austausch von Zärtlichkeiten nicht hätten zurückhalten können. Nicole fügte sich selbst schon genug Schmerzen zu, da mussten nicht noch andere für zusätzliche Tiefflüge sorgen!
Irgendwann erreichte selbst Nicole die Talsohle des Schmerzes. Sie konnte nicht mehr tiefer sinken, dazu war ihr instinktiver Lebenswille einfach zu stark. Er zwang sie, sich aufzurappeln und einen Blick nach vorn zu wagen. Ihre Zukunft, die sie vor sich sah, trist, dunkel und kalt, ließ sie erschauern.
»Du hast sie in der Hand«, hörte sie ihre lange ignorierte Stimme im Hinterkopf flüstern.
Und wenn, was sollte sie damit anfangen?
Es half nichts, sie musste sich erst der Vergangenheit stellen, ehe sie überhaupt an eine Zukunft denken durfte. Nicole, die seit Mirjams stillem Abgang kein Lebenszeichen von ihrer Liebsten mehr erhalten hatte, begab sich auf Spurensuche.
Mit klopfendem Herzen drückte sie auf den Klingelknopf, unter dem eine zierliche Schrift verkündete, dass hier die Familie Schiesser wohnte. Die Tür öffnete sich. Lisa starrte Nicole an, als ob sie eine Erscheinung aus einer futuristischen Welt sei. Dann, nach einer endlos langen Minute, rannte die Kleine in das Haus und rief aufgeregt nach ihrer Mutter.
»Nicole!« rief Alice. »Welche Überraschung! Komm doch herein!«
Sie führte Nicole ins Wohnzimmer und bat sie, Platz zu nehmen. Lisa, die aus ihrem Misstrauen der Besucherin gegenüber keinen Hehl machte, hieß sie, sich auf ihr Zimmer zurückzuziehen.
»Bitte, Nicole«, begann Alice vorsichtig, »du kannst es Lisa nicht verübeln, dass sie dich nicht freudestrahlend begrüßt. In ihren Augen trägst du die Verantwortung dafür, dass ihre Lieblingstante nicht mehr da ist.«
Nicole überlegte fieberhaft. Was sollte das heißen, Mirjam sei nicht mehr da? Sie hob fragend die Schultern, doch Alice betrachtete sie nur stumm.
»Was meinst du damit? Wo ist Mirjam? Ich habe versucht, mit ihr zu sprechen, doch ich habe sie nicht erreicht. Sie antwortete nicht auf meine Anrufe, war nie zu Hause und hat auch auf meine zahllosen
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