Ungeahnte Nebenwirkungen
boten ihr keinen Schutz gegen die Kälte, die sie von innen her zu erfrieren drohte. Unter der heißen Dusche ließ der Schüttelfrost endlich nach.
Nicole beschloss, wieder zu Bett zu gehen, denn immerhin war es ja noch tiefste Nacht. Sie ließ das Licht brennen, starrte an die Zimmerdecke und prägte sich die Maserung der Täfelung ein. Immer zwei Holzlatten wiesen das gleiche Muster auf, stellte Nicole überrascht fest, allerdings immer auch spiegelverkehrt. Wieso war das so? Nicole vertiefte sich in diese für sie auf einmal immens wichtigen Fragen. Irgendwann fielen ihr dabei die Augen zu, die Antworten würden wahrscheinlich für alle Zeiten im Dunklen bleiben.
Nicoles Morgen begann mit einem dröhnenden Schädel. Ein Straßenarbeiter hatte sich in ihre Gehirnwindungen verirrt und versuchte sich mit dem Presslufthammer einen Weg nach draußen zu bohren.
Die kleinste Bewegung des Kopfes veranlasste Nicole zu einer unterdrückten Schmerzensäußerung, das Licht der Dezembersonne rief bei ihr hilfloses Stöhnen hervor. Sie suchte nach Aspirin, das sie endlich auch fand. Es wirkte aber erst nach unendlich langer Zeit, so dass Nicole sich noch etwas in ihrem Leiden baden konnte, das, wie sie sehr wohl wusste, sie ihrem extensiven Alkoholkonsum zuzuschreiben hatte und nicht etwa, wie sie sich einredete, der Tatsache, dass Mirjam gestern Abend ohne ein einziges Abschiedswort die Wohnung verlassen hatte.
Auf den morgendlichen Kaffee verzichtete Nicole. Sie fühlte sich wie durch den Fleischwolf gedreht, und ihr Puls hatte unverkennbar fliegende Tendenzen entwickelt, da würde eine Ladung Koffein zu einem Kollaps führen, den sie niemandem erklären wollte. Statt Kaffee bereitete sich die Schuhverkäuferin eine Tasse heiße Milch zu, in die sie einen Löffel Honig einrührte. Als Kind hatte sie dieses Getränk, das ihr ihre Mutter immer bei Erkältungen und Grippe einzuflößen versuchte, verabscheut. Sie erinnerte sich aber daran, dass es zwar nicht geschmeckt, dafür aber gewirkt hatte.
Nicole schüttelte sich. Milch und Honig, oft als paradiesisch besungen, schmeckten ihr noch immer nicht. »Grässlich, einfach grässlich«, murmelte sie vor sich hin und goss den Rest des abscheulichen Getränks in den Ausguss. Der süße Honig klebte an ihren Zähnen. Sie eilte ins Badezimmer, griff nach der Zahnbürste, denn sie wollte den ekelhaften Belag, der sich auf ihren Zähnen gebildet hatte, so schnell wie möglich wieder loswerden.
Wahrscheinlich hatten die Bakterien schon begonnen, ihren Zahnschmelz zu durchlöchern, sinnierte Nicole, während sie über die glatten Flächen schrubbte, als gäbe es einen Preis zu gewinnen. Sie würde hässliche, schwarze Löcher kriegen, die ganz fürchterliche Schmerzen verursachten, steigerte sich Nicole weiter in ihre Vorstellung von Karies hinein. Dann müsste sie zum Zahnarzt gehen. Nein, Hilfe! Bitte, bitte keinen Zahnarzt!
Mit einem Zahnarztbesuch hatte Nicoles Misere ja angefangen! Hätte sie keine Zahnschmerzen gehabt, hätte sie Mirjam nie kennengelernt. Sie hätte sich nie in sie verliebt! Sie wäre von dieser Achterbahnfahrt der Gefühle verschont geblieben! Ja, die Zähne waren Schuld, eindeutig! Nur, wer ahnte denn schon, welche Nebenwirkungen ein einfacher, unschuldiger Zahnarztbesuch haben konnte?
Helen zog beim Anblick der von der unruhigen Nacht gezeichneten Freundin fragend die Augenbrauen in die Höhe.
»Hängt der Haussegen schief?« fragte Helen nicht sehr diplomatisch.
»Hmm«, grummelte Nicole vor sich hin.
Sie würde Helen bestimmt nicht erzählen, was sich am Vorabend in ihrer Wohnung ereignet hatte. Da könnte sie sich ja gleich selbst an den Pranger der lesbischen Gemeinde stellen, denn wenn Helen von ihrem Liebesdesaster erfuhr, wusste es kurze Zeit später ihre geliebte Anna, die in der Szene so bekannt war wie ein bunter Hund.
Helen versuchte es mit allen Tricks, doch sie schaffte es nicht, Nicole eine Erklärung für ihren bedauernswerten Zustand zu entlocken. Schließlich gab sie es auf. Nicole war sich im klaren darüber, dass Helen das Thema nur vorübergehend ruhen ließ. Sie verfügte über eine Neugier und Ausdauer, wenn es um Klatschgeschichten ging, dass sich Nicole schon des Öfteren gefragt hatte, wieso ihre Freundin nicht bei einer Boulevardzeitschrift arbeitete.
Die Stunden schleppten sich dahin. Heute war nicht viel los, die Leute schienen keine Schuhe zu brauchen. Erfahrungsgemäß würden sie kurz vor Weihnachten jedoch das
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