Ungeahnte Nebenwirkungen
irgendwie leblos in Nicoles Gesicht.
»Ich glaubte, endlich angekommen zu sein«, sagte Mirjam heiser. Ihre Stimme klang ebenso unwirklich wie ihre Augen blickten. »Ich dachte, ich hätte endlich die Frau gefunden, die mich versteht und nicht nur sagt, sie sei für mich da.« Mirjam machte eine Pause. Sie sprach nicht mit Nicole, die reglos vor ihr stand, sich nicht rühren konnte. »Ich habe mich getäuscht. Die Frau, die ich suche, gibt es nicht!« Mirjams Worte hallten in Nicoles Kopf.
Das Geräusch der Wohnungstür, die sich leise klickend schloss, holte Nicole in die Wirklichkeit zurück. Sie hastete zum Fenster, doch von Mirjam war schon nichts mehr zu sehen.
Weg, sie ging einfach weg! Nicole nahm ihre Wanderung durch das leere Zimmer wieder auf. Mirjam hatte sich nicht verabschiedet, sie war einfach gegangen! Und sie würde nicht wiederkommen!
Nicole blieb mitten im Zimmer stehen. Bedeutete das das Aus für ihre Beziehung? Hatte sie ihrer Liebe den Todesstoß versetzt mit ihrer Forderung? Ja, hörte Nicole das kleine Stimmchen in ihrem Hinterkopf unbarmherzig flüstern. Du hast es vermasselt, gründlich vergeigt!
Nicole setzte sich an den Tisch, auf dem noch immer die Schüsseln standen. Das Essen war kalt, doch Nicole verspürte keinen Hunger mehr. Sie hatte Mirjam davongejagt! Wie idiotisch konnte ein Mensch sein? Sie hätte doch nur noch einmal auf die Zunge zu beißen brauchen, nur noch einmal schweigen und warten, bis der Alltag in ihre sonst so glückliche Beziehung zurückkehrte! Aber nein, sie hatte die Beherrschung verloren, hatte es zugelassen, dass ihr der Kragen platzte. Sie war ausgerastet, vollkommen weggetreten! Ausgerechnet heute!
Nicole sprach dem Alkohol nur sehr selten zu, da sie wusste, dass sie ihn nicht besonders gut vertrug. Heute Abend brauchte sie aber etwas, das sie zumindest vorübergehend betäubte. Der Martini schmeckte bitter, Nicole schüttete ihn mit Todesverachtung in sich hinein.
Irgendwann war die Flasche leer und die Koordinationsfähigkeit der Geschäftsfrau völlig im Eimer. Torkelnd fand sie beim dritten Anlauf den Weg in ihr Schlafzimmer. Sie würde von den häufigen unsanften Begegnungen mit der kleinen Kommode, die in der Diele stand, und den verschiedenen Türrahmen blaue Flecken davontragen. Endlich konnte sich Nicole auf das Bett sinken lassen. Sie fiel fast augenblicklich in einen komaähnlichen Schlaf.
Wirre Gestalten tummelten sich in Nicoles Träumen. Sie erkannte unter ihnen Mirjam, die sich ihr näherte. Nicole streckte die Arme aus, berührte sie, zog sie zu sich heran. Mirjams rundliches Gesicht leuchtete, lächelte sie an, die blauen Augen glänzten. Sie neigte sich über Nicole, kam ihr ganz nah. Nicole sehnte sich nach der Berührung ihrer Lippen, fieberte ihr entgegen.
Nur Millimeter trennten ihren Mund von Mirjam, als plötzlich eine weißgekleidete Frau hinter ihrer Geliebten auftauchte. Sie schien zu schweben. Die Unbekannte musste wunderschön sein. Nicole konnte ihr Gesicht nicht sehen, sie hatte keins, doch ihr Körper, perfekt geformt, erstrahlte in einem seltsamen Licht, das Nicole das fehlende Antlitz vergessen ließ. Wer war diese Frau, fragte sie sich atemlos und klammerte sich fester an Mirjam. Der Glanz, der von ihr ausging, blendete sie, verwirrte sie und rief in ihr ein Gefühl des Unbehagens, der Angst aus. Sie hörte ein Lachen, wie sie noch nie eins vernommen hatte. Es klang nach Altmetall, das in einer Presse zermalmt wurde, nach zerbrechendem Glas. Vielleicht war es auch gar kein Lachen, sondern ein Schrei? Zwei Hände schossen unter dem weißen Umhang hervor, griffen nach Mirjam, die sich nicht bewegt hatte. Mirjam wurde aus Nicoles Armen gerissen. Sie verschwand unter dem jetzt plötzlich schwarzen Gewand.
Nicole schrie laut auf: »Nein! Komm zurück!« Sie schlug wild um sich, doch die Unbekannte war nicht mehr da.
Schweißgebadet erwachte Nicole. Wer schrie denn da? Entsetzt stellte sie fest, dass sie mit der Bettdecke kämpfte und dabei fast tierische Laute ausstieß. Sie ließ sich auf das Bett zurückfallen, versuchte wieder zu Atem zu kommen und herauszufinden, was sie zu dieser doch sehr seltsamen Aktion getrieben hatte. Nicole schloss die Augen und erkannte im gleichen Moment die unbekannte Frau ohne Antlitz. Schnell riss sie die Lider wieder auf.
»Michaela«, flüsterte Nicole in das nächtliche Schlafzimmer. »Das war Michaela!«
Nicole fror plötzlich entsetzlich. Sie trug noch immer ihre Kleider, doch sie
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