Ungeheuer
ihn bewundern.
Sie öffnete die Augen wieder. In den Sonnenstrahlen, die zwischen den Brettern hereindrangen, gaukelten kleine Staubfünkchen, wirbelten auf und nieder, verspotteten Lara Birkenfeld mit ihrem Tanz. Sie hatte keine Ahnung, wie spät es war. Der Einfallswinkel der Lichtstreifen deutete darauf hin, dass die Sonne tief stand, sodass es entweder früher Morgen oder hereinbrechender Abend war. … werde ich dir jetzt mein Kunstwerk zeigen …
Noch während Lara Morgen gegen Abend abwog, gesellten sich Bilder zu den Satzfragmenten des Wahnsinnigen, züngelten vor ihrem geistigen Auge wie dunstige Schleier über einem Moor. En herzförmiges, wulstiges Gebilde aus dunkelrotem Fleisch, umgeben von weißen Fasern. Links war etwas gewesen, das einem Ohr glich. Am Ohrläppchen hatte ein milchiges Auge in einem fein geflochtenen Drahtkäfig wie ein skurriler Schmuck gebaumelt. An der Oberseite des Fleischklumpens umhäkelte neongrünes Garn etwas, das aussah wie zwei Brustwarzen.
Lara hatte nur ein paar Sekunden hinschauen können, bevor ihr die Luft weggeblieben war und ein gnädiger schwarzer Schleier ihr die Sicht genommen hatte. Das letzte Bild hatte
sich dennoch in ihre Netzhaut eingeätzt: ein zu einem stummen Schrei geöffneter Mund, aus dessen Innerem zwei weitere trübe Augen herausschauten.
Die Fliege, welche die ganze Zeit aufgeregt um Lara herumgesurrt war, hatte sich auf ihrem Handrücken niedergelassen. Das zarte Krabbeln brachte Lara ins Jetzt zurück. Sie schüttelte ungestüm den Kopf. All das waren keine Wahnbilder oder aberwitzigen Träume gewesen, das Gesehene war Realität. Dieser Mann hatte ihr in seiner Küche Dinge gezeigt, die keines Menschen Auge je erblicken sollte.
En Rucken der Hand scheuchte die Fliege auf.
Lara starrte auf das flimmernde Lichtgitter und versuchte, sich an Ort und Zeit zu erinnern, während das Insekt zurückkam und vorsichtig auf ihrer Jeans landete.
Die Szenen hatten sich in einer kleinbürgerlichen Küche abgespielt. En rot-weiß kariertes Tischtuch auf dem Tisch, über dem chromglänzenden Herd Regale mit Gewürzen, neben der Spüle ein mächtiger amerikanischer Kühlschrank mit Eiscrusher an der Vorderseite.
Sie sah eine Kindertrinktasse und schmeckte den Geschmack nach Gummibärchen. Ihr Körper spürte das ruckartige Holpern des Rollstuhls.
Dann war alles dunkel geworden, und sie war hier erwacht. In diesem Bretterverschlag, in dem es nach Heu und Staub roch. Und nach etwas Undefinierbarem.
Lara wusste nicht genau warum, aber sie war sich sicher, nicht mehr in dem Haus mit der sittsam eingerichteten Küche zu sein. Der Wahnsinnige musste sie betäubt und dann an einen anderen Ort gebracht haben. Bedeutete das, er brauchte sie noch? Oder war auch sie nur Rohmaterial für seine abscheulichen Objekte?
Sie hatte keine Ahnung, aber der Irre würde wiederkommen, so viel war sicher. Er konnte sie nicht lebend hier zurücklassen, auch wenn dies ein abgelegener Ort sein mochte. Die Gefahr, dass doch jemand Lara lebend fand, war mit Sicherheit zu groß.
So oder so – sie musste sich vorbereiten, auf eine Flucht oder auf seine Rückkehr. Und sie durfte keine Zeit verlieren. Lara drehte vorsichtig den Kopf und versuchte, den Raum zu inspizieren. Die Augen hatten sich allmählich an das Dämmerlicht gewöhnt, und sie konnte jetzt erkennen, dass die viereckigen Gebilde an der rechten Seite übereinandergestapelte Strohballen waren. Daneben stand eine Art Leiterwagen. Rechts davon war freier Raum. Wahrscheinlich hatte man hier Platz für weiteres Stroh gelassen.
Lara wollte gerade den Blick abwenden, um die linke Seite der Scheune genauer in Augenschein zu nehmen, als irgendetwas sie innehalten ließ. Ganz am Rande ihres rechten Sehfeldes flimmerte ein unscharfes mannshohes Gebilde. Ihre Nackenmuskeln brannten. Noch einmal verrenkte sie den Hals soweit es ging nach rechts, dann war sie sicher. In der dämmrigen Umgebung materialisierte sich ein braunroter Umriss. Riesige Räder, ein vergittertes Blechmaul auf der bulligen Schnauze, links und rechts davon zwei runde Lampen.
Dahinten stand ein altertümlicher Traktor. En fahrbarer Untersatz. Lara schluckte die heraufdrängenden Tränen hinunter. Sie musste zu diesem rostigen Monstrum, koste es, was es wolle. Das Fahrzeug konnte ihre Rettung sein, auch wenn sie im Moment noch keine Vorstellung hatte, wie diese aussehen würde. Eins nach dem anderen.
Für einen Augenblick stellte sie sich vor, wie sie die
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