Ungeheuer
Das wilde Lachen verwandelte sich von einem Moment auf den nächsten in unbeherrschtes Heulen. Lara schrie ihre ganze Angst heraus, jaulte, schluchzte und schniefte. Der Gefühlsausbruch war so schnell beendet, wie er begonnen hatte, sie zog noch ein paar Mal die Nase hoch und setzte dann mit wütender Entschlossenheit ihre Bemühungen voranzukommen fort.
Muskeln anspannen, sich nach vorn schleudern, ausruhen. Muskeln anspannen, den Körper nach vorn schleudern, ausruhen. Dabei versuchte Lara, den Oberkörper mehr nach rechts zu drehen, damit der hopsende Rollstuhl insgesamt einen Bogen in Richtung des Traktors beschrieb. Vor ihrem geistigen Auge sah sie sich im Fitnessstudio auf einer Rudermaschine sitzen und sich in die Riemen legen.
Nach exakt dreißig Schlägen hatte sie ungefähr zwei Meter zurückgelegt. Und auch die Kurvenbewegung schien zu gelingen. Lara konnte das rote Blechmonstrum inzwischen gut erkennen. Die rostige Zugmaschine stand geduldig an ihrem Platz und wartete darauf, dass sie näher kommen möge.
Wieder rollten ein paar Tränen. Ihr Nervenkostüm war ziemlich angegriffen.
Die Sonne war schneller als sie. Sie stand schon tief, schien durch die Bretter der Scheune hinein zu ihr und dem altertümlichen Traktor. Lara atmete noch immer schwer. Sie musste ihn erreichen, bevor es dunkel wurde. Wenn sie Glück hatte – etwas anderes verbot sie sich zu denken –, fand sie den Zündschlüssel oder irgendwelche Gerätschaften. Auf irgendeine Art und Weise, die sie sich überlegen konnte, wenn sie dort war, würde sie sich des Werkzeugs bemächtigen und ihre Fesseln durchtrennen. Ihr Atem hatte sich etwas beruhigt, und Lara beschloss weiterzumachen, auch wenn ihre Rückenmuskeln bereits lautstark protestierten.
Im Vorwärtsrucken fraß sich ihr Blick am seitlichen Brettermuster rechts hinter dem Traktor fest. Die Längslinien waren nur schwer zu erkennen, da die Sonne von der anderen Seite kam, aber trotzdem konnte sie sehen, dass die Streifen durchbrochen waren. Es gab drei senkrechte Linien. En Tor! Irgendwie mussten der Leiterwagen und der Traktor, mussten der Rollstuhl und Lara schließlich in diese Scheune hineingelangt sein. Sie hatte das Tor nicht sehen können, weil es sich anfangs in ihrem Rücken befunden hatte. En Film lief in ihrem Kopf ab: Lara Birkenfeld am Steuer des Traktors. Ihr Gasfuß brachte den Motor zum Aufheulen. Erst dann löste sie die Bremse. Der Traktor ratterte auf das Tor zu, beschleunigte, sprengte wie ein Bulldozer die Flügeltüren auf und brauste davon.
Noch ein Ruck. Und noch einer. Ihre Nackenmuskeln glühten von der Anstrengung. Den rasenden Durst hatte sie fast vergessen, jetzt kam er zurück, sie konnte kaum schlucken, das Innere des Mundes fühlte sich wie mit Sand gefüllt an, die Lungen schmerzten beim Atmen. Gleichzeitig meldete
sich ihre Blase, alarmiert vom ständigen Rütteln. Lara hatte das Gefühl, es nur noch wenige Sekunden lang aushalten zu können, und betete darum, nicht in die Hosen machen zu müssen, nicht noch einmal die Beherrschung zu verlieren, sich solch eine Blöße zu geben, auch wenn sie allein war.
All das dachte sie, während ihr erschöpfter Körper wie ein Automat die Befehle befolgte: anspannen – vorwärtswerfen – ausruhen.
Allmählich drang die Dämmerung durch die Ritzen, Gelb verwandelte sich erst in Orange, dann in Rot, Schatten krochen in die Ecken und ließen sich dort nieder. Ihr blieb, wenn sie Glück hatte, noch eine Stunde Sicht.
Noch ein Ruck. Der Traktor war jetzt nur noch einen Meter entfernt. In der Vorwärtsbewegung kam es Lara so vor, als habe sich das Paketband im Brustbereich ein wenig gelockert. Sie hielt inne, bewegte den Oberkörper und beobachtete dabei die Fesseln. Zwischen Rücken und Lehne entstand ein Luftzug, wenn sie versuchte, sich nach vorn zu beugen. Auch die gefesselten Hände hatten etwas mehr Spielraum. Das Klebeband hatte sich definitiv durch die ruckartigen Bewegungen gedehnt. Abfallen würde es sicher nicht, aber vielleicht konnte sie wenigstens eine Hand herausziehen. Mit neuem Mut fuhr Lara fort, sich nach vorn zu werfen, und zählte dabei laut mit.
Bei »zwanzig« fehlten noch wenige Zentimeter. Der Traktor schien auf sie zu warten. Wieder prüfte Lara ihre Fesseln, wand und drehte beide Hände, krallte die Finger ein, drückte und kniff die Nägel in das elastische Band. Rechts riss etwas ein, und ihr entschlüpfte ein triumphierender Aufschrei. Mit einem letzten wütenden Reißen
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