Ungeheuer
läutete das Wochenende ein und lief immer nach dem gleichen Schema ab: Zuerst aßen sie Pizza, die Jungs tranken ein paar Biere, die Mädels Wein, dann gingen sie in den neuesten Film, und danach versackten sie in irgendeiner der zahlreichen Studentenkneipen im Viertel.
»Ich verstehe das nicht.« Lisa sah zum dritten Mal innerhalb von fünf Minuten auf ihre Armbanduhr. »Wo steckt Ann-Kathrin bloß? Hast du nicht gesagt, sie wollte nur schnell Zigaretten holen?«
»Und zum Briefkasten«, ergänzte Robert.
»Das kann doch aber keine halbe Stunde dauern.«
»Eigentlich nicht. Warte, ich ruf sie an.« Robert drückte ein paar Tasten und hielt sich das Handy mit konzentriertem Gesichtsausdruck ans Ohr. Lisa konnte es klingeln hören. Nach endlos erscheinenden Sekunden tutete es, und eine Computerstimme verkündete, dass die Angerufene nicht zu erreichen sei.
»Das ist komisch.« Robert betrachtete die Anzeige.
Wieder wählte er. Wieder klingelte es. Wieder nahm niemand ab. »Ich versteh das nicht.« Seine Unterlippe hatte sich nach vorn geschoben.
»Was machen wir denn jetzt?« Paul nahm ihm das Handy ab und schaute mit dem gleichen zweifelnden Gesichtsausdruck auf das Display wie sein Freund.
»Das ist tatsächlich seltsam.« Lisa spürte das beunruhigende Gefühl der letzten Tage zurückkommen. »Und Ann-Kathrin wollte nur zum Briefkasten und Kippen kaufen?«
»Wenn ich es euch sage.«
»Und wo wollte sie die Zigaretten holen?«
»In dem kleinen Tante-Emma-Laden bei uns in der Nähe. Die haben freitags bis zweiundzwanzig Uhr auf.«
»Kann es sein, dass sie aufgehalten wurde?«
»Von wem sollte sie denn aufgehalten werden?« Robert zündete sich die dritte Zigarette in Folge an und hielt die Schachtel dann Lisa und Paul hin.
»Freunde, Bekannte. Was weiß ich.« Lisa verschluckte Rauch und hustete.
»Im Tante-Emma-Laden?«
»Man weiß ja nie.«
»Also, passt auf. Ich schlage vor, wir machen einen Zettel an unsere Tür, dass wir uns im Kino treffen, und gehen dann vorher noch mal schnell zu dem Geschäft.« Paul sah zur Uhr. »Das schaffen wir gerade noch.« Auf dem Weg in den Flur drehte er sich zu Robert um. »Vergiss dein Handy nicht!«
Lisa schrieb »Liebe Ann! Sind schon los. Treffen uns vor dem Kino!« auf eine Haftnotiz, klebte diese unter den Spion und eilte den beiden Jungs nach.
»Klein und zierlich, lange blonde Haare. Warten Sie.« Robert kramte in seiner Brieftasche. »Das ist sie.« Er reichte dem Ladenbesitzer ein Foto seiner Freundin. »Sie hatte eine helle Jeans und so eine Art Schlabberbluse an.«
»Die war vorhin hier.« Der Mann gab das Bild zurück. »Sie hat Zigaretten gekauft.«
»Genau!« Robert klang erleichtert.
»Wann war das?« Lisa war keineswegs beruhigt.
»Vor einer halben Stunde ungefähr. Ich habe nicht zur Uhr gesehen.« Die Ladenklingel bimmelte, und ein alter Mann tappte herein.
»Wissen Sie, wohin sie danach gegangen ist?«
»Keine Ahnung, aber ich glaube, sie hatte es eilig.«
»Scheiße.« Robert wischte sich die Schweißperlen von der Stirn. Hinter ihm zählte der Alte Münzen in der Handfläche.
»Tja, sorry.« Der Ladeninhaber wandte sich dem neuen Kunden zu. »Bier, Ernst?«
»Drei Büchsen!« Ernst warf die Münzen auf die Glasplatte. Sein Gestank nahm Lisa den Atem. »Danke trotzdem.« Sie folgte den Jungs nach draußen.
»Was machen wir denn jetzt?«
»Ruf sie noch mal an.«
»Hab ich doch schon dreimal.« Robert schnaufte und wählte erneut.
»Nichts, nada.«
»Hoffentlich ist nichts passiert!« In Lisas Bauch kribbelten hundert Käferbeine. »Sie kann doch nicht spurlos verschwunden sein!« Als könne die Freundin plötzlich auftauchen, sah sie sich nach allen Seiten um, aber die Straßen waren verwaist.
Hinter ihr kam der Alte aus dem Laden, die drei Dosen Bier glücklich an die Brust gedrückt. Der Besitzer schloss hinter ihm ab.
»Gehen wir zum Kino. Vielleicht wartet Ann-Kathrin dort auf uns.« Paul verglich noch einmal die Uhrzeit. Wenn sie sich sehr beeilten, würden sie noch rechtzeitig zum Hauptfilm kommen.
Die Jungs gingen mit weitausgreifenden Schritten, und Lisa musste fast rennen, um mithalten zu können. In ihrem Kopf kreiselten Bilder von Verkehrsunfällen, Kidnapping und Verfolgungsjagden, während sie wie ein Mantra wiederholte, dass die Freundin gleich vor dem Kino stehen würde, als sei nichts geschehen.
Jetzt bogen sie um die Ecke. Vor dem Eingang zum Cinemaxx stand niemand. Die Spätvorstellungen hatten
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