Ungeheuer
den Tag legten. Sowohl Gein als auch sein Bruder verachteten den Vater.
En verachtenswerter Vater. Er selbst konnte sich an gar keinen Vater erinnern. War jemals einer da gewesen? Sicher, es gab einen biologischen Erzeuger, aber einen »Vater« hatte er nie besessen. Und die Mutter hatte kein einziges Mal auch nur das Wort erwähnt, geschweige denn vom Vorhandensein eines Vaters oder Ehemannes berichtet. Und einen Bruder, so wie Ed, hatte er auch nicht. Und doch gab es Parallelen. Seine eigene Mutter – Helga, die alte Hexe – glich in einigen Punkten der Mutter des verwirrten Ed Gein. Beide waren dominante, herrschsüchtige Frauen, beide unzufrieden, beide streng religiös. Noch so ein Blödsinn. Es gab keinen übermächtigen, alles sehenden Gott.
Wenn überhaupt, dann war er selbst Gott – er entschied über Leben und Tod, er nahm Leben und verschonte. Er – der allmächtige Doctor Nex.
Schnell scrollte er weiter. Geins Vater starb 1940. 1944 kam es auf der Familienfarm zu einem Großfeuer, in dem Geins älterer Bruder ums Leben kam. Der Polizei gegenüber sagte Gein aus, er hätte seinen Bruder im dichten Qualm aus den Augen verloren, konnte sie aber trotzdem direkt zu dessen Leichnam führen. Obwohl bei Henry Gein ein Schädeltrauma festgestellt werden konnte, wurde Erstickungstod in die Sterbeurkunde eingetragen. Henry Gein gilt daher als mögliches erstes Opfer seines Bruders. Nachdem im darauffolgenden Jahr die Mutter starb, lebte Gein allein auf dem elterlichen Grundstück.
Der Mann zog die Unterlippe nach innen und grub die Zähne in das weiche Fleisch. Eds Mutter war gestorben, und bald darauf hatte Ed angefangen, Gräber zu besuchen und Körperteile zu sammeln. Noch eine verblüffende Parallele. Solange die alte Hexe noch gelebt hatte, hatten seine eigenen Kunstwerke auch nur in seiner Fantasie existiert. Gut, er hatte schon als Kind ein bisschen mit Tieren herumexperimentiert und sich Kenntnisse angeeignet. Zuerst war es dem kleinen Martin darum gegangen, das Innenleben der Lebewesen zu erkunden. Er hatte sie aufgeschnitten und gebannt auf die pulsierenden Organe gestarrt, von denen er nicht einmal wusste, wie sie hießen und welchen Zwecken sie dienten. Die Kadaver seiner Studienobjekte begrub er in dem Wäldchen am Ende der Straße. Mutter hatte nichts davon geahnt. Sie hätte es auch nicht gutgeheißen, auch nicht zu Studienzwecken, dessen war er sich sicher. Waren es anfangs nur kleine Tiere, die ihm zufällig in die Hände fielen: Mäuse, junge Vögel, die aus dem Nest gefallen waren, ein von der Morgenkühle noch gelähmter Frosch, reichte ihm das schon bald nicht mehr aus. Er
begann, sich Bücher über die Jagd auszuleihen und selbst Fallen zu basteln. Streunende Katzen, Marder oder Eichhörnchen fielen nun regelmäßig als Versuchsobjekte an. Danach hatte er das Präparieren geübt. Fell, Leder, Innereien. Er hatte all die Präparate im Biologieunterricht nur daraufhin betrachtet, mit welchen Mitteln man sie konserviert haben mochte.
Die endlosen Stunden im finsteren Kellerverlies hatte er im Anschluss leichter durchgestanden, indem er sich neue Forschungsaufgaben ausdachte, sich ausmalte, welches Tier in der Schlinge auf ihn wartete und wie er es sezieren und Teile davon haltbar machen würde.
Das Töten an sich war anfangs lediglich Mittel zum Zweck gewesen. Er fühlte sich als Forscher . En Entdecker auf dem Weg zum Weltruhm. Nicht umsonst hatte er schon als kleiner Junge Medizin studieren wollen. Seine Kenntnisse im Zerteilen und Präparieren von Körpern waren ihm dabei zugutegekommen.
Die Faszination beim eigentlichen Moment des Sterbens jedoch, zu beobachten, wie das Leben erlosch, wie die Augen der Tiere sich trübten, war erst später entstanden. Mit zunehmendem Alter hatten ihn die aufgeschnittenen Bäuche, die Herzen, Mägen, Darmschlingen immer mehr gelangweilt, und sein Forschergeist begann, nach neuen Herausforderungen zu suchen.
Nicht dass er den heiligen Quatsch glaubte, den Mutter ihm vorbetete, aber dass Tiere keine Seele besaßen, konnte er selbst sehen, wenn sie starben. Und so hatte sich die Aufmerksamkeit des jungen Erfinders anderen – höheren Aufgaben zugewandt. Töten und Ausweiden war langweilig, eines Wissenschaftlers und Künstlers nicht würdig. En Kunstwerk aus menschlichen Elementen zu schaffen jedoch – ein »Opus magnus« ehemals beseelter Fragmente –, dieses Verlangen erschien
eines Tages wie von Zauberhand in seinem Kopf und festigte und
Weitere Kostenlose Bücher