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Ungeheuer

Ungeheuer

Titel: Ungeheuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Puhlfürst
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vertiefte sich von Jahr zu Jahr.
    Weil Mutter ihn bei allem und jedem nachspionierte, ihn beobachtete und seine Freizeitaktivitäten streng kontrollierte, hatte er es erst nach ihrem Ableben gewagt, seinen Wunschtraum in die Tat umzusetzen. Außerdem hatte ihr Tod ihm einen Schock versetzt – der sich zuerst in einer Art monatelanger Starre äußerte, dann aber in einen Heilungsprozess überging. Erst als Helga Mühlmann für immer in ihrem Eichensarg unter der Erde eingeschlossen gewesen war, hatte sich sein kreativer Geist frei entfalten können.
     
    Bei Eddie Gein musste es ähnlich gewesen sein. Sein Blick kehrte zum Bildschirm zurück. Auf Eds abgelegenem Gehöft fanden sich Teile von mindestens fünfzehn verschiedenen weiblichen Leichen.
    »Da kann ich nicht mithalten, Bruder Ed.« Der Mann hörte dem Nachhall seiner eigenen Worte zu und setzte hinzu: »Noch nicht.« Dann lächelte er. Sanft.
    Der Eintrag über Ed Gein bei der deutschen Ausgabe von Wikipedia war halbherziger Schrott. Es fehlten Fotos, es fehlten Hintergründe, es fehlten genaue Auflistungen, was man bei Bruder Ed alles gefunden hatte. Die englischsprachige Ausgabe von Wikipedia war zwar detailreicher, aber auch nicht genau. Zum Glück gab es im Internet zahlreiche weitere Seiten über seinen berühmten Vorgänger, manche auch mit realistischen Fotos. Er hatte ohnehin alle gespeichert. Wieder rief er seine Lieblingsseite auf und las den Text laut: »Am 16. November 1957 wurde Bernice Worden, Besitzerin eines kleinen Ladens und Mutter des Hilfssheriffs, vermisst. Ihr Laden war voller Blut, und eine Spur führte zur Hintertür. Im Geschäftsbuch stand ›Frostschutzmittel zu 99 Cent‹ als letzter
Eintrag. Wer war dieser letzte Kunde, und hatte er etwas gesehen? Der Hilfssheriff erinnert sich: ›Es war Eddie Gein… Er sagte, dass er Frostschutzmittel brauche und dass er heute Morgen vorbeikäme … ‹
    Sie fuhren zu ihm raus, aber niemand war da. Eine Tür war offen, und der Hilfssheriff und ein Bewohner Plainfields betraten das Haus. Dann sahen sie es: Bernice Worden hing mit den Füßen zuoberst an der Decke, sie war nackt, der Kopf fehlte, und sie war wie ein Tier ausgeweidet worden.«
    Das Beste an dieser Seite waren die Fotos. Grobkörnig, in Grautönen, ein bisschen unscharf, sah man, wie eine Leiche, die Arme vor dem Leib mit einem Seil verknotet, an einer Art Flaschenzug hing. Der Kopf fehlte.
    En weiteres Bild zeigte den kopflosen Körper von vorn. Was auf der Seitenansicht nicht zu sehen gewesen war, wurde hier deutlich: Eddie hatte an den Füßen eine Querstange befestigt, sodass die Beine weit auseinandergespreizt wurden. Vom abgetrennten Kopf gab es extra Fotos. Bernice Worden machte ein Gesicht, als wüsste sie, was mit ihr geschehen war. Die grauen, schwarzen und weißen Pixel machten das Bild zu etwas Unglaubwürdigem, Fremdem. Blut drückte sich in schwärzlichen Schmieren aus, Haut schimmerte nicht bläulich, sondern schmutzig bleich.
    Doctor Nex schloss das Programm. Was Eddie da veranstaltet hatte, war definitiv keine Kunst gewesen. Vom Gestank in seiner Farm ganz zu schweigen. Edward Theodore Gein konnte sich nicht mit Doctor Nex messen. Er mochte Inspiration sein, Anregungen liefern, mehr jedoch nicht. In zwei Verfahren hatte die Justiz den »Schlächter von Plainfield« für unzurechnungsfähig erklärt. Eddie war 1984 in dem Hospital, in dem er »verwahrt« wurde, an Krebs gestorben.
    »Friede sei mit dir, Eddie. Du warst ein verwirrter Mann.«
Ed Gein hatte keine Vorstellung von dem Moment gehabt, in dem die Seele einen Körper verließ, keine Ahnung von Expressionismus und wissenschaftlichem Erfindergeist. Aber auch Edward Theodore Gein hatte auf seine Weise am Menschen geforscht. Und dafür gebührte ihm Achtung.
    Doctor Nex stand auf und reckte sich. Es war an der Zeit, die Morgenlektüre hereinzuholen. Mit einem Rattern rollten die Jalousien an den Küchenfenstern nach oben. Er öffnete die Eingangstür und schnüffelte frische, klare Morgenluft, die noch einen Hauch Nachtkühle mit sich brachte. Die Tagespresse ragte seitlich aus dem Briefkastenrohr heraus. Mal schauen, was »LB« über den mysteriösen Kopf in der Schachtel und den dazugehörigen Brief zu berichten hatte.
    … London und Paris wollen gemeinsame Atomkraftwerke bauen … Strengere Kontrolle der Finanzmärkte … US-Bank bietet Internet-Safe für wichtige Dokumente an … Mit einem Schnaufen blätterte er um. Den Kopf in der Kiste auf der

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