Ungeschoren
entspannt und erschöpft sein sollten. Kerstin Holm schläft nicht. Es ist zu viel. Ihr Sohn hat gerade ihren neuen Mann kennengelernt, wenn er es denn ist, und es verlief angenehm undramatisch. Jetzt schläft Anders auf ihrer einen und Viktor auf ihrer anderen Seite in der Wohnung in der Regeringsgata, und dennoch kann sie nicht schlafen. Sie versucht, einen Willen zu verstehen, der so klar und zugleich so unklar ist, einen Willen, der nur getan hat, was sowieso getan werden würde, und der dennoch viel mehr getan hat. Sie versucht zu verstehen, was, doch dann lässt das leichte Streichen, das plötzlich über ihren Rücken läuft, sie alles vergessen und einschlafen.
Auch Paul Hjelm schläft nicht. Nur Teile von ihm schlafen. Die bemerkenswerte Frau mit Namen Christina schläft auf seinem Arm. Das ist der Teil von ihm, der schläft. Der Arm kommt ihm nicht mehr wie sein eigener vor. Er verliert Stück für Stück von sich selbst. Und er sieht den Spülmechanismus einer Toilette. Der spült seine Seele hinunter, jedes Mal, wenn er einschlafen will. Als es ihm schließlich gelingt, liegt das an einem ganz, ganz sanften Streichen über den Rücken.
Der Mann in der Dunkelkammer schläft auch nicht. Er schläft überhaupt nicht mehr. Damit hat er aufgehört. Die Fotos an der Wäscheleine glühen in einem schwachen roten Licht. Er tippt an ein Bild im Entwicklerbad. Nach und nach tritt das Bild einer Musikergang in einem Übungsraum hervor. Er hängt das Bild auf.
Die Hand bleibt noch ein wenig in der Schwebe. Sie streicht leicht durch die Luft.
There’s a fossil that’s trapped in a high cliff wall.
There’s a dead salmon frozen in a waterfall.
There’s a blue whale beached by a springtide’s ebb.
There’s a butterfly trapped in a spider’s web.
King of Pain.
30
Brynolf Svenhagen hielt einen Plastikbecher Urin gegen das Licht. Dass dessen DNA in hohem Grad mit dem seiner Enkelin übereinstimmte, konnte mit bloßem Auge nicht einmal er feststellen.
Gott sei Dank, dachte Paul Hjelm. Er seufzte tief angesichts dessen, was kommen sollte.
»Seufze nicht«, sagte der Chefkriminaltechniker mürrisch. »Wir haben das hier mit einer Schnellanalyse gemacht. Schneller kriegst du es nirgendwo auf der Welt.«
»Ausgezeichnet«, sagte Hjelm mit großer Selbstüberwindung. »Ihr habt also die Antwort?«
Svenhagen stellte den Plastikbecher auf seinen Schreibtisch und richtete den Blick auf Hjelm.
»Mir gefällt diese Geheimniskrämerei nicht«, sagte er.
»Warum kannst du nicht den offiziellen Weg gehen?«
»Darüber kann ich nichts sagen. Tut mir leid.«
»Interna«, ächzte Svenhagen und nahm ein Protokoll vom Schreibtisch. Der Urinbecher stand gefährlich nah an der Kante. Hjelm betrachtete ihn gebannt.
Er schwankte.
Und genau darunter standen Brynolfs Galoschen.
Der letzte Schwede mit Galoschen.
»Nun?«, sagte Hjelm auffordernd.
Svenhagen nickte. »Doch«, sagte er. »Die Probe enthält Spuren von Cannabis. So geringe Spuren, dass es sich nur um Marihuana oder Haschisch handeln kann.«
»Danke«, sagte Paul und nickte.
Auf eine unlogische Weise war es vollkommen logisch.
Der anonyme Denunziant würde nie darauf bestanden haben, wenn es nicht wahr gewesen wäre – so gut meinte er ihn inzwischen zu kennen. Und auch das wies Spuren einer unlogischen und doch glasklaren Logik auf.
»Halte dich in Zukunft an den offiziellen Dienstweg«, sagte Brynolf mit seiner offiziellen Stimme.
Auf dem Weg zum Schreibtisch schwebte das Protokoll über dem Plastikbecher. Der Luftzug ließ ihn wieder schwanken.
»Du sollst also nicht mehr babysitten?«, sagte Hjelm boshaft.
Svenhagen beobachtete ihn mit gerunzelter Stirn. »Ich will nicht«, sagte er und setzte sich schwer.
Hjelm war schon draußen, als er zu fluchen begann.
»Paul Hjelm«, sagte Kerstin Holm.
Es war Vollversammlung. Donnerstagvormittag, wieder einer dieser düsterschönen frühen Sommertage. Doch bis in die Kampfleitzentrale drang kein Mittsommerlicht vor.
»Das wirkt ja vollkommen unglaublich«, sagte Gunnar Nyberg. »Er hat also diesen Bengt Eriksson schon lange beobachtet?«
»Das war mein Eindruck«, sagte Arto Söderstedt. »Aber es ist, wie er gesagt hat, ›natürlich äußerst vertraulich‹.«
»Ich habe den Kontakt mit Kommissar Marek Wojcik in Polen erneuert«, sagte Kerstin Holm. »Es hat einiges gebracht. Bengt Eriksson kam mit der gleichen Maschine in Warszawa an wie Jon Anderson. In Warszawa mietete er, genau wie ich
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