Ungeschoren
Mörders aufgenommen, jedes Bild hatte der Mörder buchstäblich gesehen. Lena Lindberg versetzte sich an seine Stelle, in seine Art, die Welt zu sehen. Die frohen Gesichter sahen aus wie Totentanzbilder: Lachen am Rand des Grabes. Die Flüchtigkeit, Anfälligkeit, Sterblichkeit allen Seins.
Doch nirgendwo fand sich der Fotograf selbst. Sorgfältig hatte er jede reflektierende Fläche vermieden.
Und das Auge sieht bekanntlich alles – außer sich selbst.
Er war nicht einmal in Pauls Plastikbrille zu erkennen.
Lena Lindberg legte die Fotos zur Seite und griff wieder zu den beigefügten Negativen. Alle Bilder waren da, in numerischer Reihenfolge. Kein einziges misslungenes Foto. Das ließ nichts Gutes ahnen.
Kein einziger Fehlversuch.
Und die Verpackung war seit langem weggeworfen. Sie verwendete einen unangemessen großen Teil des Tages darauf, den Weg zu rekonstruieren, den zwei Tage alter Müll aus geleerten Papierkörben nahm. Alles wurde ›täglich entsorgt‹, erfuhr sie schließlich, keine Geheimnisse verließen das Polizeipräsidium.
Dann die Überwachungskameras. Einen kurzen Augenblick lang nährte Lena Lindberg die Hoffnung, dass der provisorische Festsaal im dritten Stock von einer eigenen Kamera überwacht wurde, doch es zeigte sich, dass das nicht der Fall war. Dagegen gab es vier potenzielle Kameras auf dem Weg von der Polhemsgata hinauf in den dritten Stock. Eine in einem Korridor und die im Aufzug waren exakt datiert. Die am Eingang und eine zweite in einem anderen Korridor waren ohne Datumskontrolle. Die musste sie genauer prüfen. Das hieß mehrere Stunden Arbeit, auf die sie keinen Bock hatte.
Also die beiden Überwachungsfilme, bei denen es leicht war, den richtigen Zeitpunkt zu finden. Die im ersten Korridor zeigte nichts; er musste sich ganz einfach um sie herumgeschlichen haben. Die im Aufzug zeigte Viggo Norlanders Familie. Es war faszinierend. Viggo, Astrid, ein Zwillingswagen. Sonst nichts. Bis zwei Hände von unten ins Bild gestreckt wurden und ein Blitzlichtgerät auf eine große Kamera schraubten. Anschließend klatschte das ältere Mädchen dem jüngeren eine Rassel ans Jochbein, und beide heulten los. Lena sah deutlich, wie Viggos untröstlicher Mund ›Charlotte‹ rief, worauf er ihr die Rassel aus der Hand schnappte. Die Aufzugtür glitt zur Seite. Die Familie verließ den Aufzug, die weißen Konturen Arto Söderstedts kamen für einen Moment ins Bild. Dann verschwanden sie. Da wurde die Hand wieder ins Bild gestreckt und drückte auf einen der Aufzugknöpfe. Wahrscheinlich, um die Tür aufzuhalten. Einen Moment war es still. Der Aufzug war leer. Schließlich kam Arto Söderstedt zurück. Ein Blitz zuckte auf. Eine Kontur glitt aus dem Aufzug. Und das war alles.
Eine Kontur … Nur eine Bewegung. Mehr nicht. Er hatte sich gleichsam um den Blickbereich, den die Kamera abdeckte, herumgedrückt. Ohne dass jemand das Ausweichmanöver bemerkt hätte.
Lena Lindberg seufzte und betrachtete den großen Stapel Videobänder vor sich auf dem Schreibtisch. Sie verfluchte ihren Mangel an entsprechender Routine und fummelte das erste Band in eines der zahlreichen Videogeräte des Videoraums.
Sie fragte sich, wie viele Bänder sie wohl gleichzeitig schaffte.
Viggo Norlander war überaus aktiv. Er laborierte mit drei Medien gleichzeitig. Fabelhaft, in welche Höhen der Simultankapazität man sich als ganztags arbeitendes Kleinkind-Elternteil hinaufarbeitete. Man bekam so gut wie alles in den Griff, außer Rasseln.
Er mailte, er telefonierte, er war unterwegs – alles gleichzeitig. Und die Erinnerungsbilder von Jan-Olov Hultins anspruchslosem Pensionsfest legten sich als mentale Bruchstücke nebeneinander. Alle hatten sich im selben geschlossenen Raum befunden, und alle erinnerten sich an gänzlich verschiedene Dinge. Nur in einem Punkt waren sich die Befragten einig: Sie erinnerten sich bezüglich des Fotografen ausschließlich an die Blitze.
Bislang.
Er fuhr mit dem Wagen im Vierundzwanzigstundenstoßverkehr auf Ringvägen und betrachtete das E-Mail-Programm auf den drahtlos mit dem Internet verbundenen Laptops, während er gleichzeitig am Handy telefonierte. Mit Niklas Grundström.
Grundström machte sich Sorgen. Weniger über den Komplikationsgrad des Falls an sich als über seinen eigenen Mangel an Aufmerksamkeit. »Aber wie ist das möglich?«, stieß die in der Regel beherrschteste Kraft des gesamten Polizeikorps hervor. »Ich hatte ihn doch direkt vor der
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