Ungeschoren
davonzischte, dachte er erneut: Vielleicht ist die lebenslange Paarbeziehung ganz einfach nicht möglich. Vielleicht beruht die Idee der Kleinfamilie auf einer Hierarchie, für die es keine Grundlage mehr gibt. Wir versuchen, in den familiären Mustern einer entschwundenen Zeit zu leben, und statt einer klar geregelten Arbeitsverteilung haben wir einen endlosen, zersetzenden Machtkampf bekommen. Den infizierten Machtkampf der Gleichstellung.
Dass es zwischen uns immer zerrüttet sein muss.
Nur weil wir endlich gleich sind.
Er blickte dem Möbelwagen nach, bis die schwarze Abgaswolke verflogen war. Wenn er heute Abend von der Arbeit nach Hause käme, würde die neue Wohnung nicht mehr scheidungsleer sein. Die alten Sachen würden in chaotischer Unordnung dastehen und ihn an die Vergangenheit erinnern. An die Zeit, als er eine Familie hatte.
Und Chaos würde sein Name sein.
Sein Blick wanderte über den dürftigen Miniaturgarten. Er lag verlassen da. Verlassen auf die ursprüngliche Art und Weise. Eine archaische Verlassenheit.
Wie der Tod.
Er ließ den Motor an, schob die Brille in die Stirn, warf einen Blick auf die Armbanduhr, legte die Aktenmappe auf dem Beifahrersitz zurecht und zupfte den Schlips gerade.
Und dachte: Nein.
Dann fuhr er davon.
6
Es war nicht ganz unproblematisch, seinen Sohn am Tag, an dem man den Posten als Chefin einer der Eliteeinheiten der Polizei antrat, mit zur Arbeit zu nehmen. Anderseits galt es, ein Zeichen zu setzen – die Spezialeinheit beim Reichskriminalamt für Gewaltverbrechen von internationalem Charakter, bekannt als die A-Gruppe, wurde mittlerweile von einer alleinerziehenden Mutter geleitet, und wenn man das nicht hinbekam, hatte man dort nichts zu suchen.
Wenn Kerstin Holm allerdings ganz ehrlich sein wollte, so war das eine nachträgliche Konstruktion. Es war in Wirklichkeit viel einfacher. Sie hatte nur keine Ferienbetreuung für ihren achtjährigen Sohn Anders Holm gefunden. Sie hatte nicht die Zeit gehabt, hatte es nicht geschafft, den komplizierten Prozess in die Wege zu leiten, ja, sie hatte nicht einmal geahnt, dass es ein so komplizierter Prozess war. Der Juni war ein anstrengender Monat gewesen.
Formell hatte sie den Posten schon zum ersten Juni angetreten, doch da hatte ihr Vorgänger, der legendäre Jan-Olov Hultin, noch parallel mit ihr gearbeitet, bis zu dem Tag, an dem er offiziell in Pension ging, und das war gestern gewesen. Sonntag, der sechzehnte Juni. Er hatte ihr zwei Wochen Hilfestellung geleistet. Erst heute war er endgültig fort. Obwohl er versprochen hatte, immer zur Verfügung zu stehen, ›nie mehr als drei Meter vom Handy entfernt‹.
Sie sah hinaus auf den Hof des Polizeipräsidiums, zu dem sich die kristallklare Mittsommersonne auf unergründlichen Wegen Zugang verschafft hatte. Es sah nicht aus wie gewöhnlich. Irgendetwas war schief. Etwas irritierte sie. Sie überlegte schon seit geraumer Zeit, was es sein mochte.
Es war die Perspektive.
Erst heute war sie in Hultins Zimmer gezogen. Der Raum lag nur einige Zimmer entfernt von ihrem alten, sodass die Perspektive nur leicht, ganz leicht verschoben war. Doch es reichte aus, den täglichen Ruhepunkt für den Blick zu verändern.
So sah die Chefperspektive aus.
Der Raum war leer, bis auf die Standardeinrichtung: Schreibtisch, Telefon, Computer, Fax, Drucker, Kaffeemaschine. Die Wände waren kahl wie Hultins Schädel. Es war ein Zimmer, das sich nicht im Geringsten von ihrem alten unterschied. Außer dass sie allein war.
Früher hatte sie das Zimmer mit Gunnar Nyberg geteilt, der damals noch den Ehrentitel Schwedens größter Polizist trug, und es war ziemlich eng gewesen. Dann waren die A-Gruppen-Karten neu gemischt worden, und das ein wenig logischere Paar Kerstin Holm/Paul Hjelm hatte das Licht des Tages erblickt. Der Betrieb Jalm & Halm auf Englisch.
Im Dezember vergangenen Jahres war dieser Betrieb gesprengt worden, als Hjelm zum Leiter der Stockholmsektion der Abteilung für Interne Ermittlungen ernannt wurde.
Als einziger Bewerber, wie sie in Gesprächen mit dem genannten Potentaten zu ergänzen pflegte.
Sie hatte sich nämlich selbst bewerben sollen, aber es war etwas dazwischengekommen.
Ihr Leben.
Sie hatte es jahrelang verlegt. Aber jetzt war es wieder am Platz.
›Wieder‹ war bei genauerem Hinsehen zu viel gesagt. Jetzt war es am Platz. Punkt.
Das vergangene knappe Jahr war die überwältigendste Zeit ihres Lebens gewesen. Sie hatte ein Kind bekommen. Und das
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