Ungeschoren
Bestmögliche herauszuholen.«
»Aber so antwortest du nicht.«
»Nein«, sagte Jan-Olov Hultin. »Ich antworte gar nicht.«
Kerstin Holm, frischgebackene Kriminalkommissarin, lehnte sich in dem sonderbaren IKEA-Ledersofa zurück und sagte nachdenklich: »Jon Andersons Persönlichkeit unterscheidet sich drastisch von dem informellen und ziemlich legeren Stil, der bisher in der A-Gruppe geherrscht hat. Er hat einen Metallspieß im Hintern. Hat dir das vorgeschwebt? Mehr Spieße?«
Hultin kicherte tatsächlich. Das nachsichtige Kichern eines Pensionärs. Aber er sagte kein Wort. Er ließ sie nur weiterreden.
Und das tat sie: »Ihm scheint die Fähigkeit abzugehen, selbstständig zu denken. Er hat einen viereckigen Kopf. Hat dir das vorgeschwebt? Mehr square heads?«
»Absolut«, sagte Hultin unparteiisch.
Da begriff Kerstin Holm, wohin der Hase lief. Sonderbarerweise. »Da brat mir einer ’nen Storch«, sagte sie. »Du bezweifelst also meine Fähigkeit, Ordnung zu halten? Zu strukturieren?«
»Du warst damals nicht da. Es war im November.«
»Sei nicht albern, Jan-Olov. Natürlich war ich da. Paul war der einzige Bewerber für den Posten bei den Internen. Du kannst dir doch nicht Viggo als Nachfolger vorgestellt haben. Also kann es nur auf das eine, und wirklich nur auf das eine, hinauslaufen: dass du besser darin bist als ich, am Flipchart ein Schema zu zeichnen. Du musstest jemanden haben, der in der Lage ist, ein Schema zu zeichnen.«
Hultin beugte sich vor und sagte vertraulich: »Ihr habt nie geglaubt, dass ich Ordnung hielte. Ihr habt geglaubt, meine Papierstapel wären Attrappen. Surrogat für Polizeiarbeit von anno dazumal. Aber eigentlich habe ich verflucht gut Ordnung gehalten. Ich habe hinter euch aufgeräumt. Tagtäglich. Ihr habt so viele Dienstvergehen begangen, dass ich euch ständig retten musste. Nicht zuletzt dich, Kerstin. Nicht zuletzt in unserem jüngsten Fall. Meinem letzten.«
Kerstin Holm nickte empört. Sie versuchte, ihre Empörung als Intensität zu tarnen, aber vermutlich gelang ihr das ziemlich schlecht. »Du hast also einen Aufräumer eingestellt«, sagte sie mit heiserer Stimme.
»Er ist ein gut strukturierter Kriminalbeamter mit ungewöhnlichen Erfahrungen. Genau solchen, wie ihr sie braucht.«
»Du redest mit einer Chorsängerin.«
Da machte der Alte tatsächlich ein ganz, ganz leicht erstauntes Gesicht. Das kam nicht alle Tage vor. Anderseits konnte er sich jetzt auch mal einen Gefühlsausdruck leisten.
Offensichtlich verstand er einfach nicht, was sie meinte.
»Chöre sind große Kollektive«, verdeutlichte sie. »Die Männer sind entweder gesetzte Familienväter, chorgeübte Schuljungen, Männchen auf der Jagd oder Homosexuelle. Die Kategorien kann man auch kombinieren.«
»Könnte es sein, dass sie einfach gern singen?«
»Dies hier ist ein vertrauliches Gespräch, nicht wahr? Also können wir die politische Korrektheit beiseite lassen. Sozusagen von Mann zu Mann – wie ihr sagen würdet. Ich glaube, dass ich einen Salonschwulen erkenne, wenn ich einen sehe, und der Teufel soll mich holen, wenn Jon Anderson nicht so einer ist. Widersprich mir. Provoziere meine Vorurteile. Sind nicht das seine ›ungewöhnlichen Erfahrungen‹?«
»Könnte es sein, dass sie einfach gern singen?«, wiederholte Jan-Olov Hultin ruhig, aber überaus deutlich.
»Natürlich. Und wenn es viele tun, dann bekommt man am Ende einen Querschnitt durch die Gesellschaft. In der fünf Prozent homosexuell sind. Einer von zwanzig. Wenn man vielen Menschen begegnet, lernt man, sie zu erkennen.«
»Und wie? Kraniologie? Schädelform?«
Kerstin Holm seufzte vernehmlich. »Trotz allem Guten, was man über dich sagen kann, Jan-Olov, gehörst du zu einer älteren Generation von Polizeibeamten. Die sind in der Regel der Auffassung, dass ein Schwuler oder eine Lesbe sich ganz klar abheben. Wenn du dann wirklich einen Schwulen triffst – und vermutlich hast du in deinen Papieren–die-selbstverständlich-keine-Attrappen-sind gelesen, dass er einer ist – und mit ihm redest wie mit jedem anderen Menschen, dann findest du das äußerst seltsam. Es ist ungefähr das gleiche Aha-Erlebnis, wie Auge in Auge mit einem Orang-Utan zu sitzen und zu merken, dass er eine Menge Interessantes zu sagen hat.«
»Ein Orang-Utan braucht kein Mann zu sein«, sagte Jan-Olov Hultin.
»Was?«, sagte Kerstin Holm.
»Du hast gesagt ›ei‹. Als ob der Orang-Utan per definitionen ein Männchen wäre. Ich würde
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