Ungeschoren
Erlebnisse in Uppsala aufzuarbeiten, panzerte er sich. Sie hatte genau das Gleiche getan. Vielleicht noch schlimmer. Aber sie hatte sich nicht unansprechbar gemacht, wie Anderson es tat. Was auch geschah, er durfte die Stimmung nicht verderben. Nicht jetzt, nicht gerade jetzt, wo sie die Gruppe übernahm. Sie spürte, dass sie sich in gefährlicher Nähe von Wohlfühlterror bewegte. Alle mussten sich wohlfühlen. Wir gegen die anderen. Zaun und Schloss. Hier drinnen in unserem kleinen Idyll fühlen wir uns wohl. Niemand darf kommen und uns das kaputt machen. Waren sie dabei, Jon auszugrenzen, statt ihn möglichst zu integrieren und Rücksicht auf seine ›ungewöhnlichen Erfahrungen‹ zu nehmen, um Hultin zu zitieren?
Sie verfluchte Hultin dafür, dass er sie auf diese Probe stellte. Als kleines Abschiedsgeschenk voller Schadenfreude.
»Das sind die beiden größeren Fälle im Augenblick«, sagte sie möglichst locker. »Dann hat Sara an ein paar Fällen geschnüffelt, seit sie vor drei Wochen zurückgekommen ist, nachdem sie am elften März die kleine Isabel geboren hat.«
»Geschnüffelt ist das richtige Wort«, sagte Sara Svenhagen. »Es sind zwei Fälle aus anderen Abteilungen, die wir uns einmal anschauen sollten. Ich bin mir nicht sicher, ob sie uns etwas angehen. Der erste betrifft eine größere Schlägerei zwischen zwei kriminellen Lagern in einer Stockholmer Kneipe. Das Gaststättengewerbe steckt da mit drin. Es lag eine Anfrage von der Abteilung für Gewaltverbrechen bei der Provinzialpolizei vor, ob wir uns dafür interessieren. Der zweite betrifft eine Anfrage der Polizei von Jönköping, in der es um einen Schwimmtrainer aus Moldawien geht. Der Mann wurde bei Schwimmwettkämpfen ermordet. Im Augenblick hat die Interpol-Abteilung von Reichskrim den Fall unter Beobachtung.«
»Gut, Sara«, sagte Kerstin Holm. »Das bedeutet, dass du Zeit hast, dich ein paar Tage mit Lena zu beschäftigen und sie einzuweisen.«
Sie warf einen Blick auf Anders, der seine rasenden Autos vor dem Hintergrund einer Stadt zeichnete. Sie hatte vergessen, dass er dort saß. Ihr Sohn.
In diesem Augenblick fragte sie sich – sehr, sehr kurz –, ob sie wirklich besonders gut zur Chefin taugte.
Ohne eine Spur von Simultanfähigkeit.
Sie hatte die Vision eines komplexen Schemas auf dem Flipchart.
Und dann fasste sie einen Entschluss. Beim nächsten Mal würde sie einen ordentlichen Stapel Papier mitbringen, den sie zusammenklopfen konnte.
Dummies.
9
Die Abteilung für Interne Ermittlungen war eine offene Wunde. Es war ihre Funktion, eine offene Wunde zu sein. Ohne diese Wunde könnte der Körper der Polizei fehlerhaft heilen. Ohne Wunde kein Heilungsprozess. Die Wunde hielt den Körper offen. Ließ Sauerstoff heran.
Polizeiintendent Niklas Grundström verwarf das Bild in seinem Kopf. Wunden konnten so schlecht heilen, dass unter der Narbe keine einzige Zelle funktionierte, wie sie sollte. Man brauchte nur ein wenig daran zu kratzen, und eine Sturzflut von Eiter würde sich daraus ergießen.
Es war seine Aufgabe, die Wunde offen zu halten. Mit Heilungsprozessen konnte er nicht dienen – die musste man anderswo suchen –, aber er konnte dafür sorgen, dass die Wunde sich nicht entzündete. Sodass nicht als einzige Überlebensmöglichkeit die Amputation übrig blieb.
Er schüttelte den Kopf, um das hartnäckige Bild loszuwerden. Er verfügte über hinreichend Selbsteinsicht – redete er sich ein –, um zu erkennen, dass utopische Gründe dafür verantwortlich waren, dass das Bild sich in seinem Gehirn wie ein Waldbrand ausbreitete. Denn es war eine Utopie, die nicht verwirklicht werden konnte. So funktionierte es nicht. Als er vor ein paar Jahren die am meisten geschmähte Abteilung der Polizei übernommen hatte, war die Utopie sehr lebendig gewesen. Aber sie war wegen einer sehr simplen Tatsache erloschen.
Das schwedische Polizeikorps stellte einen Landesdurchschnitt dar. Rein soziologisch gesehen, war die Polizei tatsächlich die vielleicht repräsentativste Berufsgruppe im Land. Alle sozialen Gruppen waren vertreten, wenn auch mit einer Verzögerung von einigen Jahrzehnten. Der überwältigende Anteil schwedischer Männer aus allen Gesellschaftsschichten wurde mittlerweile von einem angemessenen Anteil Frauen und einem vertretbaren Anteil von Nachkommen aus Einwandererfamilien durchsetzt (aber auch nicht mehr).
Dieser gute Durchschnitt der Bevölkerung in Schweden brachte es mit sich, dass man im Grunde die
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