Ungeschoren
sagte Kerstin Holm versöhnlich. Sie probte den Tonfall. Fühlte sich ziemlich gut an. Lag, so aus der Kathederperspektive gesehen, gut im Mund. Wenn sie sich nun in Hultin verwandelte? Wenn seine Gene im Polsterstoff des Stuhls hängen geblieben waren und schon munter dabei waren, sich in ihren Körper hineinzufressen? Wenn ihre Nase schon zu planetarischen Dimensionen angeschwollen war? Wenn sie bald eine kleine Eulenbrille trug, die von der Stützkraft der Nase gehalten wurde?
Auf jeden Fall war das Eis gebrochen.
Glaubte sie.
Jon Anderson sagte: »Ich bin jetzt seit einigen Monaten hier und habe es noch nicht verstanden. Es ist möglich, dass ihr fantastisch funktioniert, wenn ihr die Zähne in einen großen Fall schlagen könnt. Aber wenn wir an ›gewöhnlichen‹ Fällen arbeiten, kommt es mir vor, als ginge es ziemlich langsam. Ehrlich gesagt.«
Kerstin Holm spürte, wie sich eine Sorgenfalte zwischen ihren Augen bildete. »Kannst du etwas ausführlicher erklären, was nicht gut ist?«
»Ich will nicht klagen«, sagte Jon Anderson.
»Doch, das willst du«, sagte Holm. »Also tu es. Nur raus mit der Sprache. Nur kein unterdrücktes Murren am Arbeitsplatz. Das führt zum Ausgebranntsein, zur Unzufriedenheit.«
»Ich weiß nicht, was falsch ist. Aber ich weiß auch nicht, was richtig ist. Und was meine Aufgabe ist.«
»Den Fall zu lösen, der dir zugeteilt worden ist, Yes«, sagte Viggo Norlander. »Hupen und fahren.«
»Nenn mich nicht Yes. Das ist Schikane.«
»Ja«, sagte Kerstin Holm. »Hört jetzt auf damit, alle. Aber Viggo hat recht. Deine Aufgabe ist es, den dir zugeteilten Fall zu lösen. Mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln. Und nach Möglichkeit auch ein paar eigenen. Kreativität, ganz einfach. Wenn du ein Rädchen in einer Maschinerie sein willst, muss ich dich enttäuschen. Die A-Gruppe hat eine Spitzenfunktion. Sie ist nach und nach herausgemeißelt worden. Wir sind für einen ganz bestimmten Zweck gebildet worden. Als dieser Zweck erfüllt war, entstand eine Art Muster für die Zukunft. Wir haben uns sozusagen unsere eigene Funktion geschaffen. Und die lebt in hohem Maß von selbstständigem Denken. Jeder von uns ist eine kleine, aber vollständige Maschinerie, kein Rädchen in einer großen.«
»Eine Gang von Führungskräften ohne Untergebene«, sagte Arto Söderstedt, »aber es ist ein empfindliches System.
Es beruht darauf, dass Prestige keine Rolle spielt und Konzentration möglich ist. Und so muss es auch bleiben.«
Kriminalkommissarin Kerstin Holm fühlte in diesem Moment ein heftiges Bedürfnis, einen Stapel Papiere zusammenzuklopfen. Es waren vermutlich die Hultin’schen Gene, die die Wanderung durch ihren Körper fortsetzten. Sie musste sich eine andere Geste für den Themenwechsel einfallen lassen. Zunächst musste es ein Räuspern tun, dem sie die Worte folgen ließ: »Und damit möchte ich dich, Lena, bei der Spezialeinheit für Gewaltverbrechen von internationalem Charakter beim Reichskriminalamt willkommen heißen. Ich hoffe, wir haben dich nicht allzu sehr abgeschreckt.«
»Aber nein«, sagte Lena Lindberg. »Wir haben uns ja gestern auf der Feier gesehen, und ich glaube, dass ich alle schon ein wenig kenne. Nicht zuletzt den Abteilungsleiter Waldemar Mörner. Wo soll ich arbeiten?«
»Ich habe eine vorläufige Raumverteilung vorgenommen. Norlander und Söderstedt Zimmer 302, Nyberg und Anderson Zimmer 303, Svenhagen und Lindberg Zimmer 304. Ich sitze in Zimmer 301, und die Kampfleitzentrale ist Zimmer 300. Wenn Chavez wiederkommt, müssen wir ein bisschen umräumen. Also Zimmer 304, Lena, zusammen mit Sara.«
»Ein Mädchenzimmer«, sagte Lena Lindberg süß.
»Wie Zimmer 301«, sagte Kerstin Holm ebenso süß.
»Wollen wir dann zum Tagesgeschäft übergehen? Arto?«
»Der sogenannte Fernsehmord, ja«, sagte Söderstedt zögernd. »Medial verrückt, polizeilich trivial. Wie bekannt.«
»Also keine Geständnisse?«
»Tja, es ist, wie es ist. Möglicherweise wäre es für unseren Freund das Beste, sich einer rechtspsychiatrischen Untersuchung zu unterziehen.«
»Was ihr da sagt, ist mir alles rätselhaft«, sagte Lena Lindberg schüchtern.
»Natürlich«, sagte Kerstin Holm. »Entschuldigung. Erzähl von Anfang an, Arto.«
Arto Söderstedt seufzte, wandte sich an Lena Lindberg und sagte: »Wenn du nicht eine Art von Medienfilter erfunden hast – von dem ich dann gern eine Raubkopie machen würde –, kennst du mit Sicherheit die saftigsten Details.
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