Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ungeschoren

Ungeschoren

Titel: Ungeschoren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arne Dahl
Vom Netzwerk:
Damen zu einem richtigen Fall?«, fragte Kerstin Holm.

13
     
    Der Mann im Spiegel war ein Fremder. Er war es jetzt schon seit einigen Monaten. Und er wurde immer fremder.
    Von außen betrachtet, war es ein so wunderlicher Schritt. Ganz falsch – und ganz unerwartet. Ein Sprung ins Leere, ohne Sicherheitsnetz. Von innen heraus betrachtet, sah es anders aus. Das letzte Jahr hatte es notwendig gemacht. Es ging nicht mehr.
    Eine Scheidung ist nie schön. Pauls und Cillas gehörte wohl nicht zu den allerhässlichsten, aber auch nicht zu den sachlichsten. Vermutlich war es eine ziemlich durchschnittliche Trennung, mit beiderseitigem Unvermögen, die Position des anderen zu verstehen. Mit all diesen komplizierten Gefühlen, die zu reinem Hass reduziert wurden. Weil es so am einfachsten war. Weil es die einzige Möglichkeit war, den Sturm der Gefühle zu ertragen. Ihm eine Richtung zu geben.
    Alle diese Worte, die eigentlich Monologe waren und nie das Ohr des anderen erreichten. Wie konnte es sein, dass Menschen einander nicht mehr zuhörten?
    Dass Worte nicht mehr Worte waren?
    Es war vielleicht eine Krise, eine verspätete Midlife-Crisis, oder auch zwei. Zwei zur gleichen Zeit. Sie gingen in entgegengesetzte Richtungen.
    Im vergangenen Jahr hatte Paul Hjelms allgemeines Unbehagen an der Kultur ungeahnte Ausmaße angenommen. Er fand, dass die Welt um ihn herum zusammensackte. Er lebte sein Leben in der Spätphase des Römischen Reiches. Abgeschirmtes Bewusstsein, betäubt von Trivialität, von Gewinn- und Genusssucht. An den Börsen tobte der Kampf ungehemmt, nachdem die Banken der Welt die Bürger zu gescheiterten Aktienspekulanten gemacht hatten. Eine ganze Armada gerissener Verkäufer hatte alle, die außerhalb des Börsenbetriebs standen, dazu gebracht, sich als Verlierer zu fühlen. Millionen von Kleinsparern wurden ruiniert, und wer ihnen eigentlich ihr Geld stahl, war in keiner Weise zu erkennen. Der gerissenste Coup aller Zeiten.
    Die Zwillingstürme des Weltkapitalismus waren durch eine Macht kastriert worden, die kaum vorzuziehen war. Sowie durch eine zeitgemäß ungenügende Konstruktion. Die Rache gestaltete sich grob und verzerrt – und hatte gleichzeitig, ohne dass dies je beabsichtigt gewesen wäre, die Millionen Frauen des großen Landes Afghanistan befreit. Zumindest dem offiziellen Bild zufolge. Es war ein eigentümlicher Mischmasch von Gut und Böse, und alle bezeichneten sich gegenseitig als den großen Satan.
    Israel und Palästina bewiesen, dass Menschen nicht mehr miteinander reden konnten, sondern sich in kindischer Grausamkeit übertrafen. Und alle Formen von Kultur waren in nackten Konsum verwandelt. Jahr für Jahr wurde mit immer größerer Präzision jede denkbare Nuance aus dem menschlichen Bewusstsein getilgt. Die Menschen wurden zielbewusst immer viereckiger gemacht. So ließen sie sich leichter stapeln. Handlichere Bausteine. Darauf wartend, verwendet zu werden.
    In dieser Lage hatte Paul Hjelms Lebenshunger sich gewaltig gesteigert. Das Leben entzog sich ihm. Alle eitlen Versuche, sein Leben zu bereichern, wurden unmittelbar vom allgegenwärtigen Schimmel der Trivialität und des Konsums überzogen. Hundert Prozent Luftfeuchtigkeit. Ein Ausweg war die Sexualität. Sein Sexualtrieb steigerte sich erheblich. Er war die Form, in der sein Lebenshunger sich manifestierte – neben Literatur, Kunst, Musik, Essen und Trinken.
    Cilla ging den genau entgegengesetzten Weg. Das jedenfalls war Pauls vielleicht nicht ganz objektive Ansicht. Ihr Sexualtrieb war fast ganz abhanden gekommen, und sie lebte nur für ihre Arbeit als Abteilungsleiterin einer Reha-Einrichtung im Krankenhaus Huddinge. Wenn sie nach Hause kam, war sie für alles zu müde. Früher waren sie wenigstens noch zusammen ins Kino gegangen, doch es fand sich kein Film mehr, den beide gern sehen wollten. Sie hatte angefangen, Illustrierte zu lesen; sie waren das Einzige, was sie noch las. Sie schlief viel, doppelt so lange wie er, und wenn sie nicht schlief, stellte sie unermüdlich fest, wie viel besser es allen anderen ging, wie viel flottere Autos sie hatten, wie viel schönere Tapeten und Fußböden und Lampen und Kleiderschränke, wie viel schickere Wochenendhäuser. Sie spürte ihr eigenes Unbehagen an der Kultur, und hätte es auch nur einen einzigen gemeinsamen Zug mit dem seinen aufgewiesen, hätten sie zusammen den Kampf aufnehmen können. Wie früher.
    Stattdessen schien alles darauf hinauszulaufen, seine Unzulänglichkeit

Weitere Kostenlose Bücher