Ungeschoren
Stockholm, und unter Polizeischutz. Trotzdem fand er sie. Sie hatten einen Treffpunkt ausgemacht, und allem Anschein nach hatte er die Absicht, sie zu töten. Aber sie war schneller und erstach ihn. Möglicherweise sollte man erst jetzt die Bezeichnung ›Ehrenmord‹ benutzen.«
»Kaum zu glauben«, sagte Kerstin Holm. »Fadimes Rache.«
»Man kann sich ja vorstellen, was die Medien damit machen würden. Ich habe alles getan, um es vor der Presse geheim zu halten, und soweit ich es beurteilen kann, ist es mir sogar gelungen. Wir haben uns jetzt seit gut vierundzwanzig Stunden mit dem Fall beschäftigt und sind schließlich zu der Ansicht gekommen, dass es ein Fall für euch ist. Gewaltverbrechen von internationalem Charakter. Hier ist der Vorgang.«
Kerstin Holm schlug die Mappe auf und überflog den Inhalt.
»Tensta«, sagte sie.
»Tja«, sagte er nur.
Sie überflog noch ein paar Seiten, klappte schließlich die Mappe zu und richtete den Blick auf ihn. »Warum sollte es ein Fall für uns sein?«, fragte sie. »Es scheint doch alles in bester Ordnung zu sein. Mit Geständnis, Mordwaffe, Gelegenheit und Motiv und allem, was man verlangen kann.«
Åkesson begegnete zum ersten Mal ernsthaft ihrem Blick. Vermutlich war er sich der Kraft seines Blicks bewusst. Ein klarblauer Bannkreis. »Weil etwas daran nicht stimmt«, sagte er.
»Kein Blut am Messer«, sagte Kerstin Holm.
Er hielt den Blick weiter auf sie gerichtet. »Du liest schnell«, sagte er. »Die Wunde passt zu ihrem Schweizer Klappmesser, aber wir haben nicht die geringste Spur von Blut daran gefunden.«
»Es reicht doch ein kurzes Wasserbad. Einmal rein ins Waschbecken und wieder raus.«
»Es ist eine extrem gefühlsbetonte Tat. Diese Art von Kaltblütigkeit fällt aus dem Rahmen. Du solltest sie weinen hören. Es klingt wie von einem anderen Planeten. Es frisst sich ein.«
»Sie war aber bei sich zu Hause? Sie hatte die Möglichkeit, das Messer abzuwaschen?«
»Da gibt es auch einige Komplikationen«, sagte Åkesson, betrachtete Anders’ Zeichnungen und fuhr fort: »Es dauerte zwei Stunden, um die Verbindung von Nedim Rezazi aus Norrköping zu Rosa Beckman aus Tensta herzustellen. Die Verwandtschaft war gut hinter der durch Datenschutz bedingten Geheimhaltung verborgen. Aber als die örtliche Polizei um halb fünf bei ihr auftauchte, lag das Messer vollkommen trocken in ihrer Tasche.«
»Man sollte doch meinen, dass es in zwei Stunden getrocknet sein kann.«
»So ein Messer hat viele Klingen. Viele Ecken, in denen sich Nässe festsetzt. Aber gut. Es war dein Argument, nicht meins.«
»Und was ist deins?«
Bengt Åkesson richtete wieder den blauen Blick auf sie.
»Sieben Sorten Blumen«, sagte er.
»Was?«, sagte sie.
»Das steht da drin«, sagte er und zeigte auf die geschlossene Mappe.
»Ganz so schnell lese ich eben doch nicht«, sagte Kerstin Holm spitz.
»Sie hat auf dem Weg von ihrer Wohnung zum Treffpunkt sieben Sorten Blumen gesammelt. Sie lagen ganz frisch in ihrer Tasche.«
»Schwedische Mittsommernacht?«, sagte Kerstin Holm.
»Sieben Sorten Blumen unterm Kopfkissen, und du träumst von deinem Zukünftigen?«
»Es hat den Anschein«, nickte Bengt Åkesson. »Aber sie weigert sich, darüber zu reden.«
»Weiß man, dass sie die Blumen gepflückt hat?«
»Ja, das ließ sich nachweisen. Außerdem wurde sie von einem Zeugen beobachtet, der schwere Schlafprobleme hat. Der Zeuge, den wir für zuverlässig halten, schaute aus dem Fenster und hat gesehen, wie sie in der hellen Sommernacht Blumen pflückte. Kurz vor halb drei. Aber mehr hat er nicht gesehen.«
»Ist der Umstand, dass sie Blumen pflückt, wirklich ein Argument dafür, dass die A-Gruppe den Fall übernehmen sollte?«
»Etwa nicht?«
Wieder der Blick. Aufrichtig fragend.
»Du meinst, dass man so etwas nicht macht?«, sagte sie schließlich. »Man sammelt nicht sieben Sorten Blumen, wenn man seinen Bruder ermorden will?«
»Ich glaube zunächst einmal nicht, dass man überhaupt von Mord sprechen kann. Höchstens Totschlag. Wahrscheinlich Notwehr. Er hielt ein großes Messer in der Hand. Sie wusste es. Ist das nicht eine magische Geste? Wenn nichts anderes übrig bleibt? Ihre Deutung der nordischen Mittsommermagie? Was ist ihr größter Wunsch? Doch wohl nicht, ihn zu töten.«
Kerstin Holm nickte langsam. »Dass er das Messer aus der Hand legt und sie miteinander reden. Großer Bruder und kleine Schwester.«
»Widersprich mir, wenn ich falsch liege«, sagte
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