Ungeschoren
Osteuropa? Der Mann war außerdem vom ›nordischen Typs wie Qvarfordt es geschmeidig ausgedrückt hatte, also warum nicht Russe? Oder war das jetzt ein Vorurteil?
Gab es überhaupt einen Weg weiterzukommen? Die Kleider. Unauffällig. Normale Alltagskleidung für einen Mann um die vierzig. Sandalen der Marke Laja Pro, Größe 45. Natürlich keine Brieftasche, kein Ausweis. Qvarfordts zweites, ausführlicheres Obduktionsprotokoll enthielt nichts direkt Neues. Nur der Ton war jetzt etwas nervös, der Ton eines Mannes, dem etwas Wesentliches entgangen war und der dies mit überflüssigem Detailreichtum kompensierte. Die Tendenz zur Schrumpfleber nahm jetzt zwei Seiten im Spezialistenjargon in Anspruch. War der gute Gerichtsmediziner nicht eine Spur zu alt, um noch so nervös zu werden? Oder sah er ganz einfach ein, dass er allmählich zu alt wurde? Ein merkwürdiges Detail:‹ Ziemlich schlechte Fingerabdrücken Wieso ziemlich schlechte? Das war nicht Qvarfordts Sprache.
Sie griff zum Telefon, um ihn anzurufen, bremste sich aber. Es war sinnlos. Er war nach Hause gegangen und ärgerte sich und verfluchte sein Alter. Stattdessen wählte sie eine andere Nummer.
»Svenhagen«, kam es aus dem Hörer, aber es war nicht Saras Stimme, sondern die bedeutend strengere ihres Vaters. Brynolf Svenhagen, Chef der Kriminaltechniker und kerniges Urgestein.
»Ah, du bist noch da«, sagte Kerstin Holm, weil ihr nichts Besseres einfiel. »Holm hier. Hast du schon Zeit gehabt, dir die Långholmsleiche anzusehen?«
»Nur einen Blick drauf geworfen«, sagte Brynolf Svenhagen. »Zugegebenermaßen eine sehr ausgefallene Methode. Von so etwas habe ich noch nie gehört.«
»Sonst etwas, was dir ins Auge gefallen ist?«
»Schlechte Fingerabdrücke.«
»Das habe ich vermutet. Sind sie bewusst weggefeilt?«
»Das wäre möglich, dann bekäme der Fall ja einen deutlich kriminellen Anstrich. Aber ich habe sie mir unterm Mikroskop angesehen, und es kommt mir eher so vor, als handelte es sich um eine über lange Zeit hinweg erfolgte Abnutzung vor allem an der rechten Hand. Es könnte mit seinem Beruf zusammenhängen. Ich will morgen im Laufe des Tages Vergleichsmaterial aus der Fachliteratur zusammenstellen.«
»Abnutzung? Also mechanisch? Oder chemisch?«
»Das kann ich noch nicht entscheiden. Ich melde mich morgen wieder. Heute Abend bin ich bei unserem Enkelkind.«
Und der Ton seiner strengen Stimme bekam einen ganz neuen Klang. Eine Erzader im Urgestein. Kerstin Holm musste lächeln, als sie sich die kleine Halbchilenin Isabel mit durchgesuppten Windeln in den steifen schwedischen Armen ihres Großvaters Brynolf vorstellte.
»Bist du Babysitter?«, fragte sie.
»Ja, meine Frau und ich. Es ist das erste Mal. Sara und Jorge wollen ins Kino. Leider schläft meine Frau meistens ziemlich früh ein. Aber ich wollte noch etwas anderes sagen. Dieses Stück Schädelknochen im Rachen. Ich vermute, du denkst hier an etwas Russisches. Aber wie verhält es sich mit Russen und Oblaten? In welchem Zweig des Christentums spielt die Oblate die größte Rolle? Und welche Rolle spielt überhaupt das Abendmahl?«
Wie es ihm gelang, mitten im Satz den Tonfall zu wechseln.
»Spielst du Polizist?«, sagte sie.
»Alle anderen spielen ja andauernd Kriminaltechniker«, entgegnete er und legte auf.
Oblate, dachte sie und starrte auf den Telefonhörer, als wäre er ein trockenes rundes Stück Brot. Das Abendmahl. Christi Leib und Blut. Offiziell inszenierter Kannibalismus. Als Zeichen der Gemeinschaft. Sie machte sich eine Notiz.
Es war sorgfältig geplant. Der Schädel genau an der Stelle rasiert, wo das runde Stück ausgesägt werden sollte. War es möglich, so etwas zu tun, wenn das Opfer bei Bewusstsein war? Fanden sich Spuren von Schlafmittel im Blut? Sie hatte Qvarfordt gefragt, der sehr mürrisch geantwortet hatte: ›Ich gehe jetzt nach Hause.‹ ›Ist das eine Antwort?‹, hatte sie elegant erwidert. ›Ich werde es morgen untersuchen‹, hatte der alte Uhu erwidert und in den sauren Apfel gebissen. Noch ein Patzer.
Es waren zwei ganz unterschiedliche Morde, je nachdem, ob das Opfer bei Bewusstsein oder betäubt gewesen war. Im ersten Fall eine richtige Schauerorgie, grausamste Folter mit spritzendem Blut und Gehirnsubstanz, verzweifelt zuckenden Gliedern und unermesslichen Schmerzen. Im zweiten Fall mehr klinisch.
Doch die Oblate – was war das für ein Zeichen? Kerstin kehrte zu ihr zurück. Da war etwas. Die Oblate war das Symbol für den
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