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Ungeschoren

Ungeschoren

Titel: Ungeschoren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arne Dahl
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abgesetzt. Eine Woche bevor sie mit einer Axt erschlagen wurde, hatte sie einen Anruf in polnischer Sprache bekommen, der sie in Angst versetzte. Es musste ein Verwandter eines ihrer Opfer gewesen sein, damit hatte Jon wahrscheinlich recht. Dieser Verwandte sagte ihr, er wisse, was geschehen sei, und komme nach Schweden, um sich zu rächen. Aber sie konnte nicht einmal ihrem Verlobten, dem bedauernswerten Ingvar Tillgren, etwas davon erzählen. Sie konnte nichts anderes tun, als auf die Rache zu warten. Sie musste gewusst haben, dass der Tod nahte. Weiter als nach Schweden konnte sie nicht fliehen.
    Kerstin Holm ging zu ihrem Computer, tippte die infrage kommenden polnischen Nummern ein und mailte sie an Jon Anderson. Während sie auf seine Antwortmail wartete, tat sie das einzig Logische. Sie wusste, dass es ihm nicht gefallen würde: »Hej, Gunnar.«
    »Du bist also auch noch da?«, sagte Gunnar Nyberg in den Hörer. »Womit vertun wir unser Leben?«
    »Kannst du mal zu mir kommen?«
    Er trat ein, groß und stattlich und nicht mehr im Geringsten schwabbelig. Auch seine Haltung war anders als zu der Zeit, in der sie das Zimmer geteilt hatten. Er war ein neuer Mann. Sie freute sich immer über die Verwandlung. Aber jetzt würde seine Haltung sich ändern, und sie müsste ihm das Gewicht auf die Schultern packen. »Ich habe gerade mit Jon in Poznán telefoniert.«
    »Und unserem kleinen Sonnenstrahl geht es gut?«
    »Besser, als es dir gleich gehen wird. Du hattest doch die Vorstellung, dass dir Elzbieta Kopanska gefallen würde, nicht wahr? Eine Frau nach deinem Geschmack?«
    »Was behauptet er jetzt Bösartiges?«
    »Sie war eine Mörderin, Gunnar. Sie hat allem Anschein nach mindestens fünf Patienten ermordet, um von den Beerdigungsinstituten Prämien zu bekommen.«
    Gunnar Nyberg setzte sich auf die Schreibtischkante. Er war blass geworden. »Herrgott, was sagst du da?«
    »Es ist in letzter Zeit mehrfach vorgekommen. Polen tut alles, um die Aufnahme in die EU zu schaffen, alles wird privatisiert und rationalisiert, und die Angestellten im öffentlichen Dienst sind gezwungen, auf jede denkbare Art und Weise ihr Einkommen aufzubessern.«
    Er nickte. »Der Hass«, sagte er. »Der Axtmordhass. Es war kein gewöhnlicher Hass. Und dieser grauenhafte Blick, der noch in ihren Augen stand. Es war keine gewöhnliche Angst, es war das Akzeptieren eines Todes, der schon eingetroffen war. Vollkommen rechtmäßig. Verdammt.«
    »Tut mit leid«, sagte Kerstin Holm.
    Mehr gab es auch nicht hinzuzufügen.
    »Der Blick war ja von Schuld erfüllt«, sagte Gunnar Nyberg.
    Sie schwiegen. Kerstin dachte: Das ist das beste Zeichen von Freundschaft – dass man wagt, zusammen zu schweigen.
    Doch dann ertrug sie die Schwere seines Schweigens nicht mehr und sagte: »Jon mailt uns die Namen und Fotos einiger Verdächtiger her. Du bekommst sie. Wenn du warten kannst.«
    Nyberg blieb ohrenbetäubend still. Zum Glück dauerte es nicht lange, bis ein ›Pling‹ im Computer das Eintreffen von Jons Mail anzeigte. Kerstin drehte den Monitor in Gunnars Richtung. Die Halbkörperfotos von vier Gestalten mit knappem dazugehörigen Text erschienen auf dem Bildschirm:
    Izabela Wlodarczyk, 62 Jahre, Witwe des im Dezember vergangenen Jahres verstorbenen Admirals Pawel Wlodarczyk;
    Malgorzata Krzosek, 51 Jahre, Witwe des im Juni vergangenen Jahres verstorbenen Lehrers Artur Krzosek;
    Mateusz Kohutek, 76 Jahre, Vater der im Januar dieses Jahres verstorbenen Fabrikarbeiterin Irina Zazawska;
    Wojtek Krzosek, 35 Jahre, ältester Sohn des oben genannten Lehrers Artur Krzosek.
    Jon Andersons Mail enthielt kein einziges persönliches Wort. Dafür gab es eine kleine Liste mit Informationen über die Personen – und über die noch nicht vernommenen Verwandten. Kerstin Holm kopierte alles auf eine CD und reichte sie Gunnar Nyberg.
    »Ein bisschen Arbeit für zu Hause?«, sagte sie.
    »Ist das ein Befehl?«
    »O ja.«
    Nyberg nahm die CD entgegen und betrachtete den Bildschirm. »Eine finstere Schar«, sagte er.
    Dann verließ er den Raum.
    Kerstin Holm sammelte sich und sah auf die Uhr. Jesses, dachte sie. In dem Moment bemerkte sie einen Schein. Ohne den Kopf zu drehen, änderte sie vorsichtig die Blickrichtung.
    Das Spinnennetz wirkte jetzt noch größer; ein gigantischer Engelsflügel spannte sich quer durch den tristen Büroraum.
    Da stand sie auf und rief: »Was willst du?«
    Doch da war er natürlich wieder verschwunden.
    Dann ging sie. Sie war schon

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