Ungeschoren
verspätet. Anders war den ersten Tag bei der Kinderfrau, und sie würde fast eine Stunde zu spät kommen. Was würde Oma Åkesson denken? Ganz zu schweigen von Anders … Wenn er sich nun den ganzen Tag unwohl gefühlt hatte.
Also Stress. Blauer Bus 1 von der Scheelegata nach Stora Essingen. Umsteigen am Fridhemsplan in den Blauen Bus 4 zum Radiohaus. Die Busse krochen durchs Verkehrschaos. Zwischen zwei Rucksäcken eingeklemmt, dachte sie über den Begriff ›Staugebühr‹ nach, der nicht richtig das traf, was er ihrer augenblicklichen Ansicht nach bedeuten sollte. Sie kam zu dem Ergebnis, dass es vielleicht gar keine so blöde Idee war, den Autofahrern gerade während der Rushhour eine saftige Maut abzuknöpfen. Was würden die Djursholmer sagen, wenn alle Stockholmer jeden Tag über die Straßen ihres schönen Reservats brettern würden? Man sollte es vielleicht einmal ausprobieren. Einen Tag im Jahr müsste man den Spieß umdrehen und den gesamten Innenstadtverkehr nach Täby oder Saltsjöbaden oder Ekerö verlegen. Nur damit sie dort einmal spürten, wie es war, in der Innenstadt zu leben, die für sie nichts anderes war als eine Müllkippe für Abgase.
Ein ziemlich rachelüsterner Wunsch, dachte sie, als sie ausstieg und die Sankt Eriksgata hinaufhetzte. Sie schwitzte. Dies war inzwischen ihre Form von Jogging. Stressjogging. Wirkt Wunder für die Herzklappen.
Sie erreichte die Tomtebogata, hechelte die eleganten Treppen hinauf und klingelte. Vera machte die Tür auf. Anders stand hinter ihr und strahlte wie die Sonne.
»Darf ich heute hier schlafen?«, waren seine ersten Worte.
Sie atmete tief durch und nahm ihn in die Arme. Das Problem wenigstens war gelöst. Er hatte einen schönen Tag verbracht. »Ich weiß nicht«, sagte sie zögernd. »Da müssen wir erst einmal Veras Papa fragen.«
Wie auf Bestellung löste sich Bengt Åkesson aus dem Hintergrund und erschien mit einer KONSUM-Schürze vor dem Bauch und einer Bratpfanne in der Hand. Herrgott im Himmel, dachte sie.
»Von uns aus gern, kein Problem«, sagte er.
»Tut mir leid, dass ich so spät komme«, sagte sie.
»Geht das Gespenst von Långholmen um?«
»Unter anderem. Vielem anderem. Wo ist die Großmutter?«
»Sie heißt Klara. Großmutter wird sie oft genug genannt. Sie ist nach Hause gegangen. Sie wohnt gleich nebenan.«
»Er hat keine Zahnbürste. Und keinen Schlafanzug.«
»Das macht nichts. Wir haben solche Sachen in Reserve.«
Einen Moment zögerte sie. Ein kleiner, kleiner Teil von ihr sagte: ›Dann habe ich mir für nichts und wieder nichts den ganzen Stress gemacht.‹ Im nächsten Moment wurde der kleine, kleine Teil entschieden größer. Aus dem dunklen Hintergrund löste sich eine blonde, tipptopp getrimmte Gestalt und legte den Arm um den schürzendrapierten Rumpf.
»Hej«, sagte Vickan. »Klar geht das in Ordnung. Die beiden bleiben für sich.«
Das ist ja wohl die Voraussetzung, dachte Kerstin Holm.
Kleinlich.
Dann fasste sie einen Entschluss. Das überraschte sie.
»Okay«, sagte sie und beugte sich zu ihrem Sohn hinunter.
»Dann sehen wir uns erst morgen Nachmittag, Anders. Und sei ein lieber Junge.«
Er stöhnte zärtlich, drückte sie kurz und verschwand.
Die erste Nacht außer Haus.
Sie warf einen Blick auf das umschlungene Paar. Vickan, die Schöne, umschwärmt von einem klarblauen Bannkreis.
Das hatte die Sache entschieden. Eindeutig.
»Ruft mich an, wenn irgendwas ist«, sagte sie und hielt ihr Handy hoch. »Dann danke und tschüs.«
Sie zog die Tür hinter sich zu und ging langsam die Treppe hinunter, den Blick auf ihr Handy gerichtet. Als sie weit genug von der Tür entfernt war, wählte sie eine Nummer.
»Ja, Lena.«
»Bleibt es bei sieben, halb acht im Sturehof?«, fragte Kerstin Holm.
»Ja klar«, sagte Lena Lindberg verblüfft. »Ey, klasse.«
»Okay«, sagte Kerstin Holm. »Ich komme.«
Sie trat auf die Tomtebogata hinaus und machte sich auf den Weg nach Hause in die Regeringsgata. Um sich auf einen Abend mit einer ›Clique Singlefrauen‹ vorzubereiten.
Eine andere Art von Stress stellte sich ein.
Sie spürte das dringende Bedürfnis nach einem Flipchart.
23
Die Kaffeeflecken auf dem Fax hielten seine Gedanken in der Wirklichkeit fest. Sie waren so deutlich in dem schwachen Licht. Eine alte Reispapierkugel an der Decke war die einzige Lichtquelle in der Wohnung. Ein Erbstück aus der Wohnung seiner Eltern in Södra Botkyrka. Cilla hatte die Lampe nie aufhängen wollen, und so
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