Ungezaehmte Begierde
Wahrheit. Alles stimmte exakt mit ihren Erinnerungen überein.
»Du glaubst, ich bin zwischen dich und deinen Zwillingsbruder geraten.«
»Da bin ich mir sicher, ich weiß nur nicht, wie das geschehen konnte. Irgendetwas muss passiert sein, als er dich angegriffen, aber nicht umgebracht hat. Du hast unsere Verbindung unterbrochen. Wenn er jetzt mordet, sehe ich manchmal dich dabei, wie du die Morde beobachtest, und manchmal sehe ich selbst winzige Ausschnitte der Morde. Aber als ich dich festgehalten habe, während du deine Vision hattest, habe ich zum ersten Mal, seit du dabei bist, alles angesehen.«
Sie blinzelte. »Vorhin in deinem Haus. Du hast diese Morde an meiner statt gesehen, ja? Du wusstest also, dass er diese Leute am Lincoln-Denkmal umbringt.«
»Ja.« Tighe stieß einen heftigen Seufzer aus. »Aber ich war nicht rechtzeitig dort, um ihn zu fassen.«
»Weil du von etwas angegriffen worden bist.« Sie presste die Hände gegen das Wagendach. »Ist das alles wahr, Tighe? Passiert das alles denn tatsächlich oder verliere ich gerade den Verstand?«
Er streckte die Hand aus und drückte sanft ihr Knie. »Ich würde dir gern sagen, dass du den Verstand verlierst oder dass es nur ein Traum oder etwas ähnlich Albernes ist. Aber das stimmt nicht, Rehauge. Du bist sogar bei vollem Verstand. Du bist da nur in etwas hineingeraten, in das du eigentlich nicht hättest hineingeraten sollen.« Er deutete mit dem Kopf auf ihr Fenster. »Halt die Augen auf, Agentin Randall. Er ist uns zwar entwischt, aber er könnte noch in der Nähe sein und sich noch jemand anderen als Nachtisch gönnen.«
Delaney nickte und dachte über seine Worte nach. Zumindest war sie, wenn man ihm glauben durfte, nicht verrückt. Das war doch immerhin etwas. Je weiter sie in die Angelegenheit vordrang und je mehr sie ihm glaubte, desto eher hatte sie das Gefühl, dass sie von Glück sagen konnte, wenn sie lebend aus dieser Sache wieder herauskam.
Sie musste ihrem Instinkt vertrauen – und ihr Instinkt sagte ihr, dass sie ihm trauen, dass sie besser zu ihm halten und ihn nicht fallen lassen sollte. Ihr Instinkt sagte ihr, dass Tighe ihre einzige Überlebenschance war.
*
Während sie durch die nächtlichen Straßen der Hauptstadt fuhren, blickte Tighe Delaney an, so wie er es in den letzten Stunden alle paar Minuten getan hatte. Er fühlte sich von dieser Frau ebenso angezogen wie eine Katze von einer Schale Sahne, selbst in der Dunkelheit, wenn er ihr Gesicht nur erahnen konnte. Sie besaß eine Tiefe, die ihn faszinierte. Bei ihr wechselten Kraft und Sanftmut, Wut und Schmerz.
Er meinte zwar ziemlich sicher zu wissen, woher dieser Schmerz stammte, aber er wollte die ganze Geschichte hören. Er wollte alles von ihr wissen.
»War deine Mutter ein Cop, Rehauge?«
»Nein. Warum?«
»Ich habe dein Gesicht gesehen, als du die tote Polizistin entdeckt hast. Ich dachte, du würdest sie vielleicht kennen. Oder dass sie dich an deine Mutter erinnert hat.«
Delaney seufzte und lehnte den Kopf wieder zurück, als wäre sie vollkommen erschöpft.
»Ich habe ihren Ehering gesehen. Ich wette, sie hat Kinder. Meine Mutter war zwar kein Cop, aber ich bin elf Jahre alt gewesen, als ich sie verloren habe. Ich finde die Vorstellung schrecklich, dass irgendein anderes Kind dasselbe durchmachen muss.«
»Erzähl mir, was passiert ist. Ich habe gehört, wie du der Katze in deiner Wohnung erzählt hast, dass ein Mistkerl sie auf einem einsamen Weg überfallen hat.« Er wusste nicht, ob sie sich ihm öffnen würde, aber jetzt waren sie schon seit einer ganzen Weile in einhelligem Schweigen miteinander unterwegs. Und er wollte sie besser verstehen lernen.
»Er hat sie vergewaltigt. Sie umgebracht, während ich in der Schule war. Mehr weiß ich nicht. Der Mörder wurde nie gefasst.«
»Das tut mir leid.«
»Es ist sehr lange her.«
»Aber nicht lange genug. Und du denkst jeden Tag daran, so ist es doch, oder? Deshalb bist du auch FBI-Agentin geworden. Um Mörder zu schnappen wie den, der deine Mutter umgebracht hat. Vielleicht sogar, um genau ihn zu fassen.«
Sie sah ihn wieder an. Dann wandte sie langsam den Blick ab. »Vielleicht bin ich ein bisschen besessen«, gab sie leise zu. »Aber, verdammt, Tighe, solche Leute muss man aufhalten.« Sie drehte sich wieder zu ihm um. »Wie konnte er es wagen, ihr das Leben zu nehmen? Und nicht nur ihres. Meins doch ebenso. Er hat mir an dem Tag, einfach so, alles genommen. Alles.«
Tighe legte seine Hand auf
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